Keine Mahnung, kein Trost – Franziskus in Auschwitz

xxy Auch Schweigen spricht. So war es Ende Juli, als der Papst das ehemalige Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau besuchte und nichts sagte.

Worte haben ja bekanntlich ihre Grenzen. Sind manchmal zuviel oder zu wenig. Schließen ein und schließen aus. Werden missbraucht, etwa von Populisten und Hetzern oder eiskalten Ideologen wie den Nationalsozialisten. So was kann auch das ganze Sprachsystem besudeln, wie Herta Müller es für die Gleichschaltung Rumäniens unter Ceaucescu beschrieb. All das dürfte Papst Franziskus wissen. Nicht zuletzt, weil er selbst in Argentinien eine Militärdiktatur miterlebt hat. Franziskus weiß aber auch, dass Worte heilende Kräfte haben, Erinnerungen wach halten können, dass Sprache in bestimmten Situationen auch Widerstand ist. Warum nicht also auch am 29. Juli 2016, in Auschwitz?

Keine Analyse, keine Mahnung, kein Trost

„Ort des Grauens ohne geschichtliche Parallele“ und „Golgotha unserer Zeit“ nannten Franziskus’ Vorgänger Auschwitz-Birkenau. Franziskus kommt keine Definition für das Doppel-Vernichtungslager und das, für was es steht, über die Lippen. Keine Analyse des Horrors, keine Mahnung für die Menschheit, kein Trost für die Spezies Mensch. Franziskus’ Besuch ist eine Begehung von Orten des Todes, ein Gedenken der Gewaltopfer ohne Worte. Der Papst schreitet mit gebeugtem Kopf unter dem Torbogen „Arbeit macht frei“ in das Lager ein, allein. Am Appellplatz hält er lange inne. Er betet in Maximilians Hungerzelle. Er berührt die Erschießungsmauer. Später umarmt er Überlebende und begrüßt Gerechte unter den Völkern, die viele Menschen retteten, ohne öffentliche Reden. Schriftlich hinterlässt er im Gästebuch des Lagers ein Gebet um Vergebung: „Herr, vergib so viel Grausamkeit“.

Dass der Papst nichts sagen würde, wusste man vorher, es war angekündigt. Die Lücke war sozusagen markiert, eine Lücke auch in der Reihe der Päpste in Auschwitz, nach dem Motto: „Ich werde dort nichts sagen.“ Benedikt XVI. hatte 2006 seine Rede mit den Worten begonnen: „An diesem Ort versagen die Worte, kann eigentlich nur erschüttertes Schweigen stehen – Schweigen, das ein notwendiges Schreien zu Gott ist: Warum hast du geschwiegen?“ Der deutsche Papst sprach in Auschwitz über das Schweigen (am Anfang einer langen Rede), Franziskus tut es, die ganze Zeit: nicht allein Betroffenheit oder das Versagen der Sprache, es ist ein Schweigen mit einer Botschaft.

Schweigen als Botschaft

Benedikt XVI. und Johannes Paul II. sind Europäer und anders in die Geschichte verstrickt als Franziskus. Sie konnten in Auschwitz einfach nicht nichts sagen, nicht als deutscher und nicht als polnischer Papst. Benedikt gab der empfundenen Pflicht zum Zeugnis folgendermaßen Ausdruck: „Ich stehe hier als Sohn des deutschen Volkes, und gerade deshalb muss ich, darf ich sagen: Ich konnte unmöglich nicht hierher kommen.“ Johannes Paul II. sprach bei seinem Auschwitz-Besuch 1979 über das Martyrium Maximilian Kolbes als Sieg des christlichen Glaubens. Zeugnis ablegen und Widerstand leisten gegen die fortdauernde Bedrohung der Humanität – die Botschaften des deutschen und des polnischen Papstes waren ein Aufruf, schrieben sich ein in den Prozess fortlaufender Aufarbeitung, es ging um ein Lernen aus der Geschichte, um Auschwitz als Mahnmal und letztlich um Aussöhnung in Europa.

Franziskus war bei der Befreiung Auschwitz’ ein Kind in Argentinien. Er hat – trotz engen jüdischen Kontakten – den Holocaust letztlich „vom anderen Ende der Welt“ erlebt. So gibt er sich in Auschwitz auch eher als Pilger „vom anderen Ende der Welt“ denn als Papst. Es ist ein Schritt auch der persönlichen Annäherung an die europäische Geschichte, die auch mit der seiner Familie verquickt ist: Bergoglios Vater war Italiener, sein Großvater kämpfte im Ersten Weltkrieg an der Isonzofront.

Franziskus ist aber natürlich nicht nur irgendein Pilger mit europäisch-argentinischen Wurzeln, 2016 ist er schon eine ganze Weile Papst. Im Heiligen Land hatte er den Frieden der Weltreligionen gepredigt, in Auschwitz geht der Papst an den Ort der Vernichtung, die Grund des jüdischen Exodus war, horcht hinein in den Schlund menschlicher Grausamkeit. Und dort setzt er sich, in der Form, ab von seinen Vorgängern, trägt an diesem Rand keinen Text vor, spricht auch nicht über Gott, sondern hört zu, wie wir sehen: der Leere, den Steinen, der Dunkelheit in der Hungerzelle, und dann den letzten Zeugen des Geschehens. Es ist ein Gang an die Peripherie, wieder einmal, vielleicht einer der bedrückendsten für den aktuellen Papst.

Die Menschheit habe es nötig zu weinen, hatte er mit Blick auf den Ersten Weltkrieg gesagt (Besuch Isonzofront Norditalien September 2014), auch am Grenzzaun zwischen Mexiko und den USA sprach Bergoglio – diesmal mit Blick auf das vielfältige Leid der Migranten – von dieser „Gnade des Weinens“ (Ciudad Juárez Februar 2016): „Tränen sind es, die zur Verwandlung führen können“, sie könnten einen „Bruch hervorrufen“, so der Papst. Franziskus macht sich in dieser Lesart in Auschwitz zu einem Stellvertreter der Menschheit, der Buße tut, der innerlich weint, was für ihn der notwendige Schritt zu Umkehr ist.

Boykott des Logos in seiner übelsten Spielart

Indem er sich von seinen sprechenden Vorgängern absetzt, erteilt er zugleich dem gewohnten, erwarteten Protokoll „Papst spricht in Auschwitz“ eine Absage. Er führt die Abwesenheit von Sprache vor – eine Barbarei, die für Auschwitz in besonderer Weise galt: Im Moment der Folter, des unsäglichen Schmerzes, ist keine Sprache. Zugleich ist Franziskus, folgt man dieser Interpretation, nicht bereit, ein System zu benutzen, das Teil der perfiden Vernichtungsmaschinerie war (in Form von Propaganda, Planung des Todes, Industrialisierung des Massenmordes). In diesem Sinne ist das Schweigen ein Boykott des Logos in seiner übelsten Spielart.

Womit weitere Fragen zusammenhängen, die Überlebende und Nachgeborene, „innere“ und „äußere“ Zeugen des Geschehens, betreffen: Welche Worte lassen sich für das erlebte Leid finden? Wie kann man das Erlebte vermitteln, was ja notwendig ist, damit die Nachgeborenen „weinen“, im Sinne Bergoglios also wirklich verstehen und aus der Geschichte lernen? Wer hat das Recht, die Ereignisse so oder so darzustellen? Und schließlich: Welche Mitverantwortung tragen wir?

Mit dieser letzten Frage hat Bergoglio Erfahrung, ganz persönlich: Der heutige Papst hat eine Militärdiktatur in seinem Heimatland Argentinien miterlebt. Die argentinische Kirche spielte damals eine zwiespältige Rolle und auch der damalige Jesuitenprovinzial Jorge Mario Bergoglio geriet in die Kritik: Als die Frage auftauchte, ob er in dieser Zeit zwei ihm unterstellte Mitbrüder ans Messer geliefert bzw. diese nicht ausreichend geschützt habe. Auch wenn der heutige Papst in dieser Frage inzwischen rehabilitiert ist, bleibt die Frage, wie Bergoglio diese Grenzerfahrung, diese Gewissenserfahrung, innerlich verarbeitet hat und wie sie ihn verändert hat. Dass Schuld und Unschuld in autoritären Systemen nicht immer leicht zu trennen sind, dürfte er wohl wissen.

Man kann also vermuten, dass der schweigende Franziskus „hörend“ gegenüber solchen Zusammenhängen ist. Das Nichtsprechen, Nichturteilen als Modus des Hörens bzw. auch des Fragens kennen wir schon von ihm, freilich aus etwas anderen Kontexten: Über das Thema Homosexualität befragt antwortete er: „Wer bin ich, dass ich (darüber) urteile?“ Und als das Thema Ehe und Familie im Vatikan auf den Tisch soll, will er erst einmal die Betroffenen selbst, die Familien, fragen und lässt einen Fragebogen an die Gemeinden in der Welt senden.

Adorno beklagte 1966 in seinem bis heute aktuellen Text „Erziehung nach Auschwitz“, dass das „Ungeheuerliche“ des Holocaust noch „nicht (genug) in die Menschen eingedrungen“ sei, als dass eine Widerholung eines solchen Geschehens ausgeschlossen sei. Mit anderen Worten: Immun wird die Menschheit gegen solchen Wahnsinn erst, wenn sie ihn auch verinnerlicht, ihm nachgespürt und ihn so verstanden hat. Um spüren zu können, muss man zuhören, den Menschen und den Orten, ihre Botschaften empfangen. Dieses „Hinausgehen“ ist es, dass der Papst propagiert: Echtes Zeugnis, echtes Verstehen findet für ihn vor Ort statt, nicht theoretisch am Schreibtisch oder versteckt in der Sakristei, sondern an den Rändern der Gesellschaft, der Welt, wie wir sie kennen. Das Konzentrationslager mit seiner perfiden Konstellation aus Ideologie, kalter Vernichtungsmaschinerie und unsäglichem Leid ist eine solche Peripherie.

Und schließlich: Der Zugang des Schweigens, den der Papst in Auschwitz ins Bild setzt (denn das Fernsehen ist natürlich dabei, und der Papst weiß das sehr wohl, auch wenn die weiße Figur „allein“ in das mit Stacheldraht abgegrenzten Horror-Lager zu gehen scheint – rein ästhetisch schon wirkungsvoll) sagt uns auch etwas über unseren Umgang mit menschlichem Leid im medialen Zeitalter. Was gewinnen wir denn der TV-Endlosschleife an Terror- und Kriegsbildern, welche in den Nachrichten selbst live schon besprochen und analysiert wird, wirklich ab? Was vom echten Leid, den wirklichen Zusammenhängen kommt bei der Masse heute noch an? Franziskus Schweigen ist in diesem ziemlich perversen Reigen ein Kontrast. Man kann ihn auch als Mahnung gegen die Abstumpfung lesen, als Appell für Empfänglichkeit und Mitgefühl.

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