Pünktlich zum Jahrestag des Massakers an den Armeniern sendet Ankara nicht Gesten der Einsicht, sondern Verhärtung: Die türkische Führung wehrt sich immer noch mit Händen und Füßen dagegen, die Massaker von 1915-17 als Genozid zu bezeichnen, im Ausland wie im eigenen Land. So haben die türkischen Behörden bei der EU-Kommission jetzt offenbar Beschwerde gegen ein subventioniertes, deutsches Konzertprojekt zum Armeniermord eingelegt und wollen den Begriff „Völkermord“ dort nicht verwendet wissen. Dass ihnen das gerade jetzt einfällt (das Stück wurde letztes Jahr ohne Beschwerden schon in Berlin aufgeführt), dürfte nicht zuletzt mit Merkels Einlenken im Fall der Meinungsfreiheit zu tun haben. Denn wenn schon die Kanzlerin nicht Stellung dazu bezieht, was Satiriker in Deutschland dürfen sollen und was nicht – ja dann kann man es ja auch bei der EU probieren, hat Erdogan vielleicht gedacht. An diesem 24. April begehen die Armenier den 101. Gedenktag zum Massenmord an ihrem Volk. Von ernsthafter Vergangenheitsbewältigung ist die Türkei heute immer noch weit entfernt. So fehlt nicht nur ein Schuldeingeständnis von offizieller Seite, die Volksgruppe kann am Bosporus auch weiter ungestraft als Feindbild konstruiert werden.
So tauchen im Kontext der Gedenkfeiern zum Armenier-Mord in der Türkei immer wieder nationalistische Parolen auf. Zum Beispiel letztes Jahr beim großen 100-Jahr-Gedenken, sagte mir Zeynep Taşkın von der Hrant Dink-Stiftung in Istanbul, die ich anlässlich des Gedenkens befragte. Die Stiftung setzt sich für armenische Kultur, Aufklärung und Versöhnung ein und wurde in Andenken an den gleichnamigen türkisch-armenischen Journalisten gegründet, der im Jahr 2007 von Nationalisten ermordet worden war.
Am 24. April 2015 sei „in den frühen Morgenstunden an dem Gebäude, wo jetzt unsere Stiftung und die Agos-Zeitung untergebracht ist, ein schwarzer Kranz von Extremnationalisten niedergelegt (worden). Nur drei Leute waren das, aber sie haben auch eine Pressekundgebung verlesen und über Internet verteilt.“ Die Stiftung meldete den Vorgang der Polizei: „Wir sehen uns jetzt nicht aktuell bedroht, aber wir müssen vorsichtig reagieren darauf und das natürlich gerichtlich auch verfolgen.“ Einfach werden dürfte das nicht – denn ein Hindernis für Vergangenheitsbewältigung in der Türkei sei Straflosigkeit, so die Türkin: „Es ist immer die Straflosigkeit, die in der Türkei eine Auseinandersetzung nicht möglich macht. Die Straflosigkeit hat mit dem Genozid angefangen und hat dann bei jedem Angriff auf Minderheiten weiter gewaltet. Deswegen können wir uns mit der Geschichte nicht auseinandersetzen, deswegen steht unsere Demokratie auf schwachen Pfeilern und deswegen müssen wir diese Hassreden und Hasspredigen auch strafrechtlich verfolgen!“
„Halbherzige“ Gesten
Es schien eigentlich so, als habe Erdoğan den Armeniern zuletzt die Hand ausgestreckt. 2014 hatte er den Nachfahren der Opfer öffentlich sein Beileid aussprechen lassen – so etwas war in der Geschichte der türkischen Republik noch nie vorgenommen. Auch für eine „gemeinsame Historiker-Kommission“, die die Massaker von 1915-17 untersuchen soll, soll er sich stark machen. Zeynep Taşkın sieht solche Gesten als „halbherzig“ an. Um den Begriff des Völkermordes werde von offizieller Seite ein großer Bogen gemacht: „Auch im Wahlkampf (Parlamentswahlen Juni 2015) wird davon gesprochen, dass das Leid an und für sich eigentlich alle trifft, dass man das Leid der Armenier versteht und bedauert. Aber trotzdem ist die offizielle Sprache noch nicht eine Anerkennung und eine Entschuldigung.“ „Im Namen der Wahlpropaganda“ sei teilweise sogar wieder das „alte Feindbild der Armenier“ hochgekommen, berichtet die Frau. Die Hrant Dink-Stiftung und die dazu gehörige Zeitschrift „Agos“ nimmt solche Tendenzen aufmerksam wahr. Sie dokumentiert etwa regelmäßig Hassreden gegen Minderheiten in den türkischen Medien.
Öffentliches Bewusstsein wächst…
Insgesamt habe es auf gesellschaftlicher Ebene in der Türkei Fortschritte gegeben, was die Auseinandersetzung mit dem Genozid an den Armeniern betrifft, räumt Taşkın dann ein. Dabei täten sich auch verschiedene Minderheiten mit Gruppen der Zivilgesellschaft zusammen, die Aufklärung wollten: „Es gibt eine große Bewegung innerhalb der Zivilgesellschaft, sich mit der Geschichte auseinanderzusetzen und dieses Leid der Armenier zu verstehen. Zum Beispiel gibt es innerhalb der kurdischen Bevölkerung einen großen Wunsch und Drang nach geschichtlicher Aufarbeitung – auch deswegen, weil die Kurden ja damals maßgeblich beteiligt waren an diesem Massaker. An privaten Universitäten ist dieses Feld ein Forschungsfeld geworden, und es gibt sehr viele Bücher auf dem Markt, auch im Literarischen, die sich damit befassen. Es ist jetzt möglich, offen über den Genozid zu sprechen und zu veröffentlichen.“
…aber die Geschichtsschreibung hinkt hinterher
Was aber leider nicht Hand in Hand mit der offiziellen Geschichtsschreibung in der Türkei gehe. Diese sei weit von den historischen Tatsachen entfernt, so Taşkın. „Es braucht mehr Ausarbeitung, es braucht auch im Bereich der Schulbücher und der Bildung Änderungen, es braucht eine Annäherung zwischen Armeniern und der Türkei bis hin zur Öffnung der Grenze. All dies wären Schritte in Richtung Aufarbeitung der Geschichte, die notwendig sind.“ Die Mehrheit der Bevölkerung sei immer noch durch eine Version der Vergangenheit geprägt, in der Armenier als „Feinde“ des Osmanischen Reiches auftraten und die Beseitigung dieser und anderer Gruppen notwendig wurde, um die türkische Republik glorreich gründen zu können. Die systematische Gewalt im Kontext der Nationsgründung werde dabei bis heute als eine Art „Kollateralschaden“ verharmlost. Der türkische Außenminister Ahmet Davutoğlu umschreibt die Massaker an den Armeniern zum Beispiel eher allgemein als „Folge einer Konfliktsituation, in der auch Muslime starben“.
Ob den Armeniern vor diesem Hintergrund jemals die gebührende Anerkennung zuteil wird, ist fraglich. Erdogans aktuelle Minderheitenpolitik und seine Einstellung zur Pressefreiheit weisen eher in die entgegengesetzte Richtung.
Das wäre zu wünschen, dass die Zeit kommt, in der die Türkei den Genozid an den Armeniern zugibt. Ich frage mich, was sie daran hindert es zuzugeben und geschichtlich aufzuarbeiten. Leider waren wir ja auch damals beteiligt.
Die Dresdner Sinfoniker haben ja ein Versöhnungsprojekt aghet gestartet, wo die Türkei versucht hat, dass die EU die Fördermittel für das Projekt kürzt.
Klicke, um auf 160423_Aghet_PM.pdf zuzugreifen
http://www.dresdner-sinfoniker.de/flash.php