In Punkto Flüchtlingsschutz und Lebensrettung auf dem Mittelmeer macht Europa gerade einen Rückschritt: Die Rettungsmission „Mare Nostrum“ der italienischen Marine soll in diesen Tagen vom Grenzschutzprogramm „Triton“ abgelöst werden. Darüber habe ich an diesem Donnerstag mit Martin Schulz, dem Präsidenten des EU-Parlamentes gesprochen. Er sagt: Europas Flüchtlingspolitik muss besser werden.
Herr Präsident, Triton heißt Grenzschutz, nicht mehr vorrangig Lebensrettung. Logistisch und finanziell ist das Programm wesentlich schmaler ausgestattet und es hat auch eine eingeschränktere Reichweite als Mare Nostrum. Man bekommt den Eindruck, dass Europa die Sorge um die eigenen Ränder und um Lebensrettung auf dem Mittelmeer nicht als eine gemeinsame Aufgabe versteht.
„Ja, der Eindruck ist richtig. Und ich gehöre zu denjenigen, die das am meisten kritisieren! Ich war vor wenigen Tagen in Lampedusa, habe mir das vor Ort angeschaut, habe übrigens auch gesehen, was die Soldaten der italienischen Marine im Rahmen der Mare Nostrum-Operation leisten, das will ich ausdrücklich unterstreichen: Ich hätte mir nie vorstellen können, dass ich so viel humane Zuwendung von Soldaten erlebe, wie ich das von den Offizieren und Mannschaften der italienischen Marine da gesehen habe, auch der Carabinieri und der Guardia di Finanza, die diese Operation betreiben.“
Wie sollte Europa also dem Problem begegnen? Es spitzt sich ja aufgrund der Kriegslage in Libyen und Syrien sowie dem Irak immer mehr zu…
„Die Europäer, nicht nur die Institutionen, auch die Mitgliedsstaaten, müssen sich darüber im Klaren sein, dass die Auflösung ganzer Staaten in unserer unmittelbaren Nachbarschaft dazu führt, dass wir mit diesen Problemen konfrontiert sind und dass wir sie in den Griff bekommen müssen. Wir können nicht in dem Zynismus weiterleben, dass die Menschen auf hoher See sterben, wir das betrauern und dann zur Tagesordnung übergehen. Wir brauchen eine Kombination aus humanitärer Hilfe, aber auch humanitärer Hilfe in den Herkunftsländern: Wir brauchen auch eine Fluchtursachenbekämpfung, die diesen Namen verdient. Also ganz klar: Europa wird in seiner Flüchtlingspolitik deutliche Veränderungen herbeiführen müssen.“
Warum tut man sich in Europa so schwer, legale Wege für Schutzsuchende in die EU zu erleichtern? Wäre nicht eine grundlegende Reform des Dublin-Asylverfahrens längst überfällig? Nach dem Dublin-Verfahren können Asylsuchende nur in dem Land Asylanträge stellen, in dem sie landen.
„Die EU ist ja in diesem Fall nicht die handelnde Ebene… Seien wir mal ganz ehrlich: Der Flüchtlingsbereich liegt in den Händen der Mitgliedsstaaten der Europäischen Union. Deshalb bevorzuge ich, die Antwort präzise zu fassen: Sie haben Recht – die Mitgliedsstaaten, die unter dem Dach der Europäischen Union als souveräne Staaten handeln, müssen eine andere Flüchtlingspolitik entwickeln. Was ich nicht länger akzeptiere, auch als Präsident einer europäischen Institution, ist, dass die Mitgliedsstaaten der EU schon bei der Aufteilung von Flüchtlingskontingenten sich nicht einigen können, es aber in der Öffentlichkeit heißt, die EU…! Nein, es sind ihre Mitglieder, die nicht zu gemeinsamen Ergebnissen kommen.“
Wie ist denn gerade die aktuelle Aufteilung der Flüchtlinge auf die EU-Staaten?
„50 Prozent, habe ich in einer der letzten Statistiken gesehen, gehen in drei Staaten: nach Deutschland, Frankreich und Schweden; wir haben aber 28 Mitgliedsstaaten. Das ist auch völlig klar: Wenn Sie in einem Land von – sagen wir – 60 Millionen Einwohnern wie in Frankreich 200.000 Flüchtlinge haben, dann ist das etwas anderes, als wenn Sie 200.000 Flüchtlinge verteilen auf 507 Millionen Menschen in 28 Staaten. Das ist auch für die einzelnen Kommunen, die einzelnen Regionen viel leichter zu managen. Und deshalb: Die Dublin-Konvention wird ganz sicher nicht ausreichen, um unsere Flüchtlingsproblematik, die Migrationsprobleme zu bewältigen.“
Aber dieses Dilemma besteht – dass man im Grunde in der EU kein Druckmittel hat, um eine konstruktive Einigung beim Thema – ja, auch zu erzwingen, zu fördern.
„Eine Frage, die Sie sicher nicht nur mir stellen, wie ich denke, sondern vor allem auch den Innenministern und den Regierungschefs der Mitgliedsstaaten… Aber wir haben ja ein Druckmittel! Das Druckmittel ist das, was jeden Tag passiert. Seien wir doch mal nüchtern: Diejenigen, die den Menschen erzählen, man müsse nur die Grenzen dicht machen, dann kämen keine Flüchtlinge mehr, die erzählen den Leuten ja was Falsches. Es wird weiterhin eine Flüchtlingsproblematik geben….“
…die wir wie angehen können?
„Was wir brauchen, ist ein dreigleisiges Vorgehen: Wir brauchen einen effizienten Schutz für politisch Verfolgte, einen verbesserten temporären Schutz für Menschen, die nur zeitlich begrenzt Schutz in Europa suchen. Ein Beispiel dafür sind die syrischen Bürgerkriegsflüchtlinge, und wir hatten in den 80er Jahren libanesische Flüchtlinge, die sind nach Ende des Krieges wieder zurückgegangen. Und drittens braucht Europa ein legales Einwanderungsrecht, so wie es alle anderen großen Einwanderungsregionen der Welt haben, die USA, Kanada, Australien, Neuseeland, Lateinamerika. Das bedeutet nicht, dass alle Menschen kommen können, aber man kann beantragen zu kommen, dann kommt man auf eine Anwartschaftsliste, und dann hat man eine Chance auf legale Einwanderung. Auch dazu gehört dann auch eine Verteilung auf die Mitgliedsstaaten – und das ist der beste Weg, der illegalen Menschenschlepperei den Riegel vorzuschieben!“
Herr Präsident, vielen Dank für dieses Gespräch.
(Ausschnitt eines Interviews für Radio Vatikan vom 30.10.2014, hier das ganze Gespräch mit Martin Schulz in der Audioversion)