Gesetz und Politik garantieren keinen Schutz vor Unrecht, sondern decken und produzieren es auch. So was sagen gerne Autonome und Anarchisten. In diesem Fall sagt es der Papst. Vielleicht nicht wörtlich, aber so ähnlich.
Ob politische Verfolgung in totalitären Regimen oder Folter als „Strafe“, ob Korruption oder Populismus in der Rechtsprechung – es gibt viele Beispiele, wo unter dem Deckmantel von „Recht und Ordnung“ manchmal laut, manchmal leise Menschenrechte verletzt werden. Jorge Mario Bergoglio kennt das gut: In seinem Heimatland Argentinien wütete lange Zeit eine schreckliche Militärdiktatur. In einer langen Grundsatzrede über Missbrauch im Strafrecht hat der Papst an diesem Donnerstag (23.10.2014) kein Blatt vor den Mund genommen.
Dass er dabei so spezifisch wurde und auf die Top-Themen einging, die derzeit im internationalen Strafrecht diskutiert werden, hat nicht nur Kriminologen beeindruckt: In Italien ging die Rede in der Presse rauf und runter. Der Stiefelstaat hat nämlich ein Problem mit überfüllten Gefängnissen und wurde für seine Haftbedingungen schon mehrfach gerügt. Prominenter Verfechter einer Verbesserung in diesem Bereich ist der Gründer und Chef der Partei „Partito Radicale“ Marco Panella, der regelmäßig für die Häftlinge in Hungerstreik tritt. Doch jetzt zur Papstrede.
Strafen sind kein Allheilmittel
Strafen als Allheilmittel für die unterschiedlichsten sozialen Probleme – diese Überzeugung hat sich laut Franziskus in den letzten Jahrzehnten zunehmend ausgebreitet: Der Strafvollzug werde als Mittel begriffen, die „disparatesten sozialen Probleme“ lösen zu können, formuliert der Papst, ohne einzelne Länder namentlich zu nennen – „wie als wenn für verschiedene Krankheiten uns dieselbe Medizin angeboten würde.“ Das Verständnis vom Strafen als „letztem Mittel“ sei geschwächt worden, ebenso die Debatte über mögliche Alternativen zum Gefängnis.
Franziskus sieht im gesellschaftlichen Umgang mit Kriminellen – und zwar auch in den modernen westlichen Gesellschaften – teilweise archaische Mechanismen am Werk: Man suche „Sündenböcke, die mit ihrer Freiheit und ihrem Leben für alle sozialen Übel zahlen müssen, wie es in primitiven Gesellschaften typisch war“, so der Papst wörtlich. Ebenso gebe es die Tendenz, „absichtlich Feinde zu konstruieren“, fährt er fort, „stereotypische Figuren, die in sich alle Charakteristiken vereinen, die die Gesellschaft als Bedrohungen wahrnimmt oder interpretiert“. Laut Franziskus ist das ein altes, wohlbekanntes Lied: „Die Entstehungsmechanismen dieser Bilder sind dieselben, die seinerzeit die Ausbreitung rassistischer Ideen erlaubten.“
Strafrechtlicher Populismus
Recht und Ordnung böten gegen die Sündenbocklogik keinen ausreichenden Schutz. In Teilen der Politik und Medien werde sogar zu Gewalt und Rache angestachelt, „zur öffentlichen und privaten“, und zwar nicht nur gegen nachweislich Kriminelle, sondern bereits gegen nur Verdächtigte und Beschuldigte. Das Strafrecht sei durch diese Logik der Rache beeinflusst, hält Franziskus fest, der dies unter dem Begriff „strafrechtlicher Populismus“ fasst. Der Papst sieht in diesem Kontext die Juristen klar in der Pflicht, „solche Tendenzen zu begrenzen und einzuschränken“ – gerade angesichts des „Drucks der Massenmedien“, „einiger skrupelloser Politiker“ und der „Racheimpulse“ in der Gesellschaft.
Franziskus weist in seiner langen und auffallend spezifischen Ansprache weiter auf handfeste Menschenrechtsverletzungen in Gefängnissen und durch staatliche Organe hin. Dazu zählt er die Todesstrafe. In „totalitären und diktatorischen Regimen“ sei die Praktik ein „Instrument der Unterdrückung politischer Dissidenten oder der Verfolgung religiöser oder anderer Minderheiten“, die einfach als „Verbrecher“ bezeichnet würden, so der Papst. Und er mag dabei nicht nur an Länder wie China, Pakistan und den Iran gedacht haben, sondern auch an die Vergangenheit seiner eigenen Heimat, wo zur Zeit der Militärdiktatur Regimegegner und Andersdenkende verschwanden und systematisch hingerichtet wurden.
Versteckte Formen der Todesstrafe
In 35 der 60 Länder, in denen heute die Todesstrafe immer noch existiert, sei die Praktik „in den letzten zehn Jahren“ nicht mehr angewendet worden, referiert der Papst. Für Franziskus ist das allerdings noch kein Grund zu Freude: Versteckt gebe es die Todesstrafe nämlich noch „auf dem ganzen Planeten“, wo sie „illegal und in verschiedenen Graden“ praktiziert werde.
Franziskus geht hier zunächst auf politische Morde ein, „echte Verbrechen“, die auch mit dem Begriff „außergerichtliche Hinrichtungen“ bzw. „außerlegale Hinrichtungen“ bezeichnet werden. Dabei handelt es sich um „absichtliche Tötungen, die von einigen Staaten und ihren Agenten durchgeführt werden, und die häufig als Auseinandersetzungen mit Verbrechern oder als unerwünschte Folgen der besonnenen, notwendigen und verhältnismäßigen Gewaltanwendung zur Gesetzesanwendung dargestellt werden“, führt der Papst aus.
Über solche Hinrichtungen berichtete die Menschenrechtsorganisation Amnesty International etwa in diesem Sommer aus Nigeria. Dort sollen Mitglieder des Militärs im Kampf gegen die islamistische Gruppe Boko Haram mehr als 600 Menschen außergerichtlich hingerichtet haben. Auch aus Lateinamerika ist ein solches Vorgehen bekannt, etwa bei gezielten Tötungen von Gewerkschaftern durch paramilitärische Gruppen.
Menschenunwürdige Haftbedingungen, Gewalt und Folter
Eine andere Form der „versteckten Todesstrafe“ sieht der Papst in der lebenslänglichen Freiheitsstrafe; diese sei im Strafrecht des Vatikanstaates vor Kurzem abgeschafft worden, erinnert Franziskus. In vielen Ländern gibt es heute eine zeitlich befristete Strafe und keine mehr, die bis ans Lebensende des Häftlings reicht. In den USA wird die lebenslange Freiheitsstrafe aber z.B. in einigen Fällen noch praktiziert.
In vielen Gefängnissen herrschten „unmenschliche und erniedrigende“ Haftbedingungen, die durch Defizite im Strafsystem und mangelhafte Infrastrukturen verursacht würden, so der Papst weiter. Zur Überfüllung der Gefängnisse trage weltweit auch der Missbrauch der Untersuchungshaft bei: Es gebe „einige Länder und Regionen der Welt“, in denen mehr als 50 Prozent der Häftlinge ohne Verurteilung einsäßen, so Franziskus. Nicht selten würden auch Polizei- und Militärstationen als Haftanstalten genutzt. Die Untersuchungshaft werde so als eine Form der „verborgenen rechtswidrigen Strafe“ missbraucht. Solche Beispiele sind etwa aus einigen osteuropäischen Ländern bekannt.
Für eine Verbesserung von Haftbedingungen in Gefängnissen hat sich Jorge Mario Bergoglio übrigens bereits mehrfach stark gemacht. Bereits als Erzbischof von Buenos Aires pflegte er engen Kontakt zu Häftlingen. In seiner Rede an die Strafrechtler ruft er zum doppelten Einsatz für die Menschenwürde derjenigen auf, die als „kriminell“ eingestuft werden: „Alle Christen und Menschen guten Willens sind also heute dazu aufgerufen, nicht nur für die Abschaffung der Todesstrafe in all ihren Formen, sei sie legal oder illegal, zu kämpfen, sondern – im Respekt der menschlichen Würde von Menschen in Unfreiheit – auch für eine Verbesserung der Haftbedingungen.“
Deutliche Worte findet der Papst über Gewalt und Folter in Haft- und anderen Anstalten. Die Isolationshaft, wie sie in Hochsicherheitsgefängnissen praktiziert wird, führe zu großem menschlichen Leid: „Das Fehlen von Wahrnehmungsempfindungen , die komplette Unmöglichkeit der Kommunikation und das Fehlen von Kontakten mit anderen Menschen lösen psychische und physische Leiden wie Paranoia, Angstzustände, Depression und Gewichtsverlust sowie die starke Zunahmen von Selbstmordtendenzen aus.“
Doch auch im „normalen“ Strafvollzug sei der Übergang zwischen Verhörmethoden und Sadismus oftmals fließend: „Die Foltermethoden werden nicht nur als Mittel, um ein bestimmtes Ziel wie das Geständnis oder die Denunziation zu erreichen (…) benutzt, sondern stellen ein echten Zusatz an Schmerz dar, der zu den Übeln der Haft hinzukommt.“ Dies sei im Übrigen auch in Institutionen zu beobachten, die sich um Schutzbefohlene kümmern sollen: „Auf diese Weise wird nicht nur in illegalen oder in modernen Konzentrationslagern gefoltert, sondern auch in Gefängnissen, Kinderheimen, psychischen Anstalten , auf Kommissariaten und in anderen Haftanstalten und Strafinstitutionen.“
Staatliche Komplizenschaft beim Menschenhandel
Das Strafrecht habe hier eine wichtige Verantwortung, so der Papst. Und er klagt darüber, dass es „in bestimmten Fällen die Legitimierung der Folter unter bestimmten Voraussetzungen billigt“ und damit die Tür für weiteren Missbrauch öffnet. Im Bereich der Sklaverei, des Menschenhandels und der politischen Verfolgung sieht der Papst eine klare Mitverantwortung der Herkunfts-, Transit- und Zielländer und teilweise auch Komplizenschaft. „Viele Staaten sind auch verantwortlich dafür, Entführungen von Personen auf eigenem Staatsgebiet durchgeführt oder toleriert zu haben, eingeschlossen ihrer eigenen Bürger, oder die Benutzung ihres Luftraums für einen illegalen Transport in illegale Haftzentren, wo Folter praktiziert wird, erlaubt zu haben.“
Dieser Missbrauch könne nur durch den „entschiedenen Einsatz der internationalen Gesellschaft“ gestoppt werden, so der Papst. Staaten müssten Menschen und ihre Freiheit schützen. Sie seien in keiner Weise befugt dazu, „den Respekt vor der Menschenwürde (…) irgendeiner Form des sozialen Nutzens unterzuordnen“. Mit anderen Worten: Jeder einzelne Mensch, auch Schwerverbrecher und Kriminelle, haben ihre eigene, schützenswerte Würde. Der Respekt vor der Menschenwürde müsse die Grenze markieren zur „Willkür“ und dem „Exzess staatlicher Agenten“, sie muss „Orientierungskriterium“ sein für die „Verfolgung und Unterdrückung von Verhaltensweisen, die die schwersten Attacken auf di Würde und Integrität der menschlichen Person darstellen“.
Korruption
Auch über die Korruption, der „üblichen Praktik bei Geld- und Handelsgeschäften“, macht sich der Papst keine Illusionen. Sie sei bei der „Vergabe öffentlicher Aufträge“ heute normal, klagt er. Das Strafrecht habe dazu bereits viele Konventionen produziert. Sein Eindruck aber sei, dass es bei den „Theorien gegen die Korruption“ eher um den Schutz der Interessen der Wirtschafts- und Finanzwelt gehe als denn um den der Bürger, die letztlich das Opfer von Korruption seien, so der Papst.
Bericht für Radio Vatikan, Oktober 2014.