Vor 120 Jahren wurde die Künstlerin Claude Cahun geboren – am 25. Oktober 1896 im französischen Nantes. Die dem Surrealismus zugeordnete Schriftstellerin, Fotografin und Performance-Künstlerin ist innerhalb der damaligen kreativen Szene eine eigenwillige Erscheinung, die ihrer Zeit in mancher Hinsicht voraus war. Neben ihrem literarischen Werk und ihrer Foto-Kunst war Cahun politisch im Widerstand gegen den Nationalsozialismus aktiv. Innerhalb der Pariser Surrealisten-Szene war die homosexuelle Jüdin eine Individualistin, was sich etwa an ihren Darstellungen des weiblichen Körpers zeigt.
Anlässlich des Geburtsjubiläums möche ich hier im Monat Oktober ein paar Kapitel zu Claude Cahun veröffentlichen. Im folgenden ersten Teil geht es um das kreative und gesellschaftliche Umfeld der Künstlerin.
Claude Cahun, Geburtsname Lucy Schwob, kommt 1894 als Tochter des jüdischen Paares Maurice Schwob und Victorine Courbebaisse in Nantes zur Welt. Ihr Vater ist Publizist der Zeitschrift Le Phare de la Loire, in der Cahun später regelmäßig Artikel veröffentlicht. Cahuns Jugend ist geprägt von emotionalen und physischen Turbulenzen. Da sich ihre Mutter wegen psychischer Probleme kaum um Claude kümmern kann, verbringt sie einen Großteil ihrer Kindheit im Haus der Großmutter. In der Schule macht sie erste Erfahrungen mit Antisemitismus. Im Alter von 15 Jahren verliebt sie sich in Suzanne Malherbe, die Tochter einer Freundin der Familie, die ihre lebenslange Gefährtin und künstlerische Partnerin werden wird.
Als sie an ihrem ersten längeren Text Vues et visions schreibt (1909-1913), leidet sie an Magersucht, experimentiert mit Drogen und Meditationstechniken und verbringt nächtliche Lesungen in der Bibliothek. Bereits in diesem Text zeigt sich eine konsequente Auseinandersetzung mit der eigenen Identität, die sich durch Cahuns gesamtes Werk zieht. Formal zwischen Erzählung, Lyrik und Tagebuchnotizen einzuordnen, lässt sich die Schrift als imaginäre Reise beschreiben, die mit der Verbindung von realen Schauplätzen und psychischen Befindlichkeiten spielt und Brücken zur antiken Mythologie und Philosophie schlägt.
Die Schrift beginnt mit einer Ankunft und endet mit einer Abfahrt, dazwischen entfalten sich auf Doppelseiten jeweils von zwei unterschiedlichen Orten ausgehend – links Croisic, rechts Orte des Mittelmeerraumes – Beobachtungen und imaginäre Szenen der Ich-Erzählerin. Häufige Motive sind die See (Matrosen, Fischfang, Wellen), antike Szenerien (Tempel und Paläste, antike Götterwelt und Philosophie), Farben und Sinneswahrnehmungen.
Die Bandbreite von Cahuns literarischem Werk weist Cahun als vielseitige Schriftstellerin aus, die sich souverän zwischen verschiedenen Genres bewegt. Ab 1913 publiziert sie regelmäßig Artikel in unterschiedlichen Zeitschriften, darunter dem Journal Philosophies von Pierre Morhange und Henri Lefebvre, dem Journal Littéraire von Paul Levy und der Homosexuellen- Zeitschrift L’Amitié.
In den 20er Jahren pflegt sie zahlreiche Kontakte zu Journalisten, Schriftstellern und Publizisten in Paris und ist als Schauspielerin aktiv. Sie lernt schillernde Persönlichkeiten der damaligen Theaterszene wie z.B. Sarah Bernhardt, Ida Rubinstein, Beatrice Wanger kennen. In dieser Zeit ist Cahun als Fotografin besonders produktiv; es entstehen zahlreiche Selbstporträts und Fotocollagen, die von Cahuns enger Verbindung zur Welt des Theaters geprägt sind.
Politisches Engagement
Durch den bürgerlichen Faschismus alarmiert, schließt sich Cahun Ende 1932 der revolutionären Künstler- und Schriftstellervereinigung A.E.A.R. an, in der sie André Breton kennen lernt. Wegen der engen Verbindung mit der Kommunistischen Partei und deren rigider Ablehnung jeder nicht-sozialistisch-realistischer Ästhetik wird sie die Organisation jedoch bald wieder verlassen. Ihre Kritik an der Politik der Vereinigung, im Besonderen an Louis Aragon, spiegelt sich in dem Artikel Les paris sont ouverts (1934) wieder.
Im Gegensatz zu Aragon, der bereit ist, künstlerische Zugeständnisse zu machen, plädiert Cahun für die Unabhängigkeit des künstlerischen Ausdrucks von einer ideologisch-politischen Verpflichtung, wobei sie zugleich betont, das Proletariat könne gerade durch das surrealistische Umdenken der Erfahrung befreit werden. Diese Radikalität ist ein Charakteristikum ihres Kunstverständnisses und zeigt sich weiterhin daran, dass Cahun offensichtlich auch eine formal verpflichtende Teilnahme an der Surrealistengruppe zuwider ist. Sie steht zwar im Austausch mit der Gruppe um Breton und nimmt an zwei der surrealistischen Objektausstellungen teil, scheint sich aber ansonsten nicht viel aus den surrealistischen Manifesten und dem skandalösen Duktus zu machen, mit dem die Surrealisten viele ihrer Aktionen durchführen. Überhaupt scheint sie bei ihrem künstlerischen Schaffen ohne ein großes Bedürfnis nach breiter gesellschaftlicher Aufmerksamkeit auszukommen. Sie betreibt einen eigenen kleinen Künstlerinnensalon in Montmatre und nutzt ihre Fotos ausschließlich für private Zwecke.
Cahun, Breton und Malherbe verlassen 1936 – zur trotzkistischen Opposition gehörend – die A.E.A.R. und gründen zusammen mit Georges Bataille die Contre Attaque-Bewegung gegen Hitler. Als sich die politische Lage Ende der 30er Jahre in Paris verschärft, zieht sich Cahun mit ihrer Lebensgefährtin Suzanne auf die Insel Jersey zurück, wo sie nach der Besetzung der Kanal-Insel durch die Deutschen mit Flugblättern und Plakaten Propaganda gegen die Nazis betreibt. Beide werden im Juli 1944 verhaftet und zum Tode verurteilt. Ihr Haus wird wiederholt durchsucht und geplündert, ein Großteil ihrer Arbeit dabei zerstört. Die beiden Frauen sind bis zur Befreiung Jerseys am 8. Mai 1945 eingekerkert, bis das Todesurteil schließlich ausgesetzt wird. Aus Cahuns späten Fotos sprechen ihre Kriegserfahrungen, jedoch geben sie auch Aufschluss über ihren bis zuletzt ungebrochenen Trotz gegen jede Form ideologischen Fanatismus.
Ein Selbstporträt von 1947 zeigt Cahun nach der Befreiung aus der Kriegsgefangenschaft. Sie tritt, eingerahmt vom Schatten einer eisenbeschlagenen Holztür wie aus dem Kerkerdunkel ans Licht. Zwischen den Zähnen trägt sie ein deutsches Adlerabzeichen.
Kunst, Imagination, Gesellschaftskritik
Merkmale des künstlerischen Schaffens bei Cahun wie bei anderen Surrealisten im Paris der Zwischenkriegszeit sind Subjektivität, die zentrale Rolle des Körpers und des Unbewussten, eine intuitive Imagination und die Gleichsetzung von Kunst und Leben. Die Surrealisten sehen sich in Opposition zum gesellschaftlichen Mainstream und zur Nation und üben Kritik am traditionellen Kunstbegriff. Doch so sehr diese umfassende Anti-Haltung die Gruppe ideell vereinte, so wenig lassen sich die Kunst und die Lebensentwürfe der einzelnen Künstler als homogen bezeichnen.
Die starke Auseinandersetzung mit dem Thema der Identität, mit Fragen der Sexualität und des Körpers, die von den Künstlern jeweils unterschiedlich ausgefüllt wurde, ist als Reaktion auf die Umbrüche im Identitätsverständnis zu verstehen, die in den zeitgenössischen Wissenschaften wie Psychiatrie und Psychologie um 1900 stattgefunden hatten. Theorien wie die Traumdeutung und Psychoanalyse hatten eine einheitliche Identität relativiert und das Gefühlsleben des Menschen als ein Zusammenspiel von Mechanismen dargestellt.
Die beliebte Beschwörung weiblicher Erotik und die Fetischisierung des weiblichen Körpers, die sich vor allem bei vielen männlichen Surrealisten beobachten lässt, ist als Gegenreaktion auf die zunehmende Verwissenschaftlichung der menschlichen Psyche und Sexualität in dieser Zeit zu deuten. Für die Surrealisten wurde das Unbewusste zu einem faszinierenden und zugleich verunsichernden Studienobjekt, einem „Loch ohne Boden“, das es im Selbstversuch zu erkunden galt und das zum Motor einer radikal subjektiven Kunst wurde.
Die Erkundung der eigenen Psyche war für die Surrealisten gleichbedeutend mit der Erkundung des Begehrens, die Intensität des Erlebens gemeinsamer Nenner von Libido und poetischer Inspiration. So stellt z.B. Breton einen direkten Bezug zwischen dem sexuellen Begehren und der künstlerischen Inspiration her: „Ich schäme mich durchaus nicht, hier zu gestehen, dass ich gänzlich unempfindlich bin für Naturschauspiele oder Kunstwerke, die nicht im Akt der Wahrnehmung unverzüglich eine körperliche Erregung in mir auslösen (…). Ich war stets außerstande, dieses Gefühl nicht mit der erotischen Lust in Verbindung zu bringen (…).“ (Bréton 1937: l’Amour fou) Die Liebe war Ausgangspunkt einer Poetisierung des Alltags und eines narzisstischen Verhältnisses zur Sprache, in dem die reale Frau paradoxerweise zunehmend in die Ferne rückte.
Mit dem Identitätsdiskurs eng verknüpft war in den 20er Jahren die Veränderung des Rollenverständnisses der Geschlechter. Der „Gender trouble“ der Zwischenkriegszeit äußerte sich z.B. im Bruch mit Kleidungsvorschriften und rigider Sexualmoral und schlug sich in Romanen wie La garconne (Victor Margueriite 1922) oder Orlando: A Biography (Virginia Woolf 1928) nieder, die die geschlechtliche Identität hinterfragten und mit Maskierungen und Rollentausch spielten.
Claude Cahuns künstlerische Transformationen, ihre ästhetischen Selbstinszenierungen und ihre gelebte Homosexualität sind Teil dieses Umbruchs und nehmen in ihrer Radikalität zugleich neuere Phänomene vorweg, wie Laura Cottingham festhält: „Cahuns Arbeit nahm um fast 50 Jahre die feministische Kritik an Kunstgeschichte und Repräsentation von Weiblichkeit vorweg, die parallel zur und nach der Emanzipationsbewegung der 70er Jahre auftauchte, und sie bereicherte rückwirkend diese Diskussion.“ (Betrachtungen zu Claude Cahun, in: Claude Cahun Bilder 1997)
In der Tat zeigt sich im Werk der Claude Cahun, dass sie einen anderen Zugang zu Fragen der Identität und Sexualität gehabt hat als ihre männlichen Künstlerkollegen. Als Frau war sie den Typisierungen von Weiblichkeit unmittelbar ausgesetzt, war deren Subjekt und Objekt zugleich, als Homosexuelle stand sie andererseits in einem anderen sozialen und sexuellen Kontext als die Surrealisten Breton, Eluard, Dali etc., die einem bürgerlichen Leben stärker verhaftet blieben.
Breton soll sein Lieblingscafé Cyrano beim Erscheinen des Paares Cahun-Malherbe demonstrativ verlassen haben. Seine vehemente Ablehnung von Homosexualität und sein persönliches Unbehagen gegenüber Cahun deutet Laurie Monahan als Hinweise darauf, dass die Frontlinie des „Gender Trouble“ auch innerhalb der künstlerischen Avantgarde verlief (vgl. Radical Transformations. Claude Cahun and the Masquerade of Womanliness 1994). Sie ließen sich als Anzeichen einer allgemeinen kulturellen Verunsicherung bezüglich des Themas Identität lesen.
Claude Cahun entsprach weder dem bürgerlichen Frauenbild noch der Triade Modell-Muse-Geliebte. Ihre Themen gehen über die Reflexion von Weiblichkeitsstilisierungen hinaus. Sie sind universellerer Natur. Die durch Cahuns Sonderstellung bedingten Erfahrungen lassen sich als Motor ihrer Kunstproduktion und der Erforschung der Vielschichtigkeit von Identität bezeichnen. Persönliche psychische und körperliche Krisenerfahrungen spiegeln sich in ihrem Werk ebenso wider wie ein reflexiv-produktives Selbstverhältnis, das sich im Gebrauch der Medien Schrift und Bild manifestiert.
Nächster Teil: Training, don’t kiss – Fotoporträts von Claude Cahun