Als die Jesuiten nach China kamen, waren sie mitnichten die ersten Christen im Reich der Mitte. Darum geht es im vierten Teil der Reihe zum Frühchristentum in Asien.
China 1625. Zur Zeit der späten Ming-Dynastie wird am Chongren-Tempel in Xi’an in der Provinz Shaanxi eine Stele aus dem 8. Jahrhundert gefunden. Auf der fast drei Meter hohen Kalksteinplatte sind neun chinesische Schriftzeichen eingeritzt, gekrönt vom Symbol eines Kreuzes: „Dàqín Jǐngjiào liúxíng Zhōngguó bēi“ – „Stele zur Verbreitung der Religion des Lichtes aus Daqin (Syrien) in China“ – darunter eine lange Reihe Namen in syrischen Schriftzeichen.
Es ist der erste offizielle Nachweis früher Christen in China: Was das Steindokument im Detail erzählt, erklärt Dietmar Winkler, Professor für Patristik und Kirchengeschichte an der Universität Salzburg: „…dass im Jahr 635 ein ostsyrischer Missionar namens Alopen den chinesischen Kaiserhof der Tang-Dynastie erreicht hat. Die Kirche des Ostens hat eine unglaubliche missionarische Expansionskraft entwickelt, die nach Indien, Zentralasien, auch in den fernen Osten, Tibet und China reichte.“
Und zwar lange Zeit vor der Jesuitenmission: Bekannte China-Missionare wie Matteo Ricci oder Johann Adam Schall von Bell wirken ungefähr zu der Zeit in China, als die Stele gefunden wird, doch sie sind mitnichten die ersten Christen im Reich der Mitte. Auf der Stele von Xi’an-fu ist die Rede von einer christlichen Gemeinde im 7. Jahrhundert, einer Gemeinde, die über mehr als 200 Jahre bestand. Ostsyrische Missionare wie der Syrer Alopen, von dem das Steindokument erzählt, werden im China der Tang-Dynastie nicht nur geduldet, sondern offiziell anerkannt. Winkler: „Es gibt einen Tang-Kaiser, der ein Edikt erlassen hat, wo eben die Strahlende Lehre, das Christentum, offiziell anerkannt wurde, und dieses Mönchtum wird dann als besonders idealtypisch dargestellt gegenüber anderen monastischen Gruppen wie den Buddhisten oder Taoisten.“
Erste Missionsphase: Die strahlende Lehre
Dieser Kaiser ist Taizong. Er lässt das Christentum als „geprüfte Religion“ zu, in einem Erlass des Jahres 635. Über die Toleranz des chinesischen Herrschers gegenüber den Christen schreibt der britische Historiker Philip Jenkins in seinem Buch „Das goldene Zeitalter des Christentums“, Zitat: „Unter seiner Herrschaft wurde ein Christentum errichtet, das als ,mysteriös, wunderbar, spontan, Einsicht bewirkend, das Wesentliche schaffend, zur Rettung der Geschöpfe und zum Nutzen der Menschen‘ beschrieben wurde. Dies war Jingjiao, die strahlende Lehre aus dem fernen Land Daqin (Tachin), also Syrien. Überall im Land entstanden Klöster, die einheimischen Baustil verwendeten. Überreste eines der Klöster aus dem 7. Jahrhundert, der Daqin-Pagode, sind in der Provinz Shaanxi zu sehen.“
Als der syrische Mönch Alopen im fernen Osten in Erscheinung tritt, erlebt seine Heimatregion die Islamisierung durch die Araber: Christen, Juden und Zoroastrier werden vor die Wahl gestellt, zum Islam überzutreten oder eine Steuer zu zahlen. Mit solchen Problemen haben die Christen im Tang-China eher wenig zu tun. Die Mächtigen lassen die Mönche wirken. Auch gibt es Zeugnisse eines Kulturaustausches zwischen Christen und anderen Religionsvertretern in China, zum Beispiel im 8. Jahrhundert in Zentralchina, wie Jenkins berichtet.
Zu dieser Zeit kommt der buddhistische Missionar Prajna aus Indien in die chinesische Stadt Chang‘an. Im Gepäck hat er Sanskrit-Suren, die er für die Glaubensweitergabe verwenden will. Doch wie soll er die Texte in eine Sprache übertragen, die er selbst kaum spricht? Prajna wendet sich an den christlichen Bischof Adam, einen Nachfolger Alopens, der die lokale christliche Gemeinde leitet. Adam hat schon Teile der Bibel ins Chinesische übertragen und zeigt sich hilfsbereit, er ist wohl auch ein wenig neugierig.
Der indische und der ostsyrische Gelehrte arbeiten fortan mehrere Jahre freundschaftlich zusammen. Gemeinsam übersetzen sie sieben umfangreiche Bände buddhistischer Weisheit – ein syrischer Christ und ein indischer Buddhist, in China. Es sei wohl nur zu vermuten, was die beiden Geistlichen hier besprechen, so Jenkins. Beide verstünden wohl Persisch und könnten sich so austauschen: „Was genau ist denn nun dieser Bodhisattva, von dem wir soviel gehört haben? Geht es dir wirklich mehr darum, vom Leiden zu befreien als für Sünden zu büßen? Meditieren deine Mönche wie unsere?“
Inwiefern christliches Gedankengut durch Bischof Adams Übersetzungshilfe in die buddhistische Lehre eingeflossen ist, sei bis heute nicht eindeutig geklärt, schreibt Jenkins. Tatsache ist jedoch, dass der Einsatz des Bischofs weit über China hinaus Früchte trägt: Japanische Mönche, die sich damals in Chang’an aufhalten, bringen die Übersetzungen aus China mit in ihre Heimat zurück. In Japan werden die Texte zur Basis der buddhistischen Schulen Shingon und Tendai, aus denen sich alle bekannten buddhistischen Bewegungen der späteren japanischen Geschichte ableiten lassen.
Dass auch am Christentum die lokalen Gegebenheiten und Erfahrungen in China in dieser Zeit nicht spurlos vorübergehen, liegt auf der Hand. Auf einer Stele nestorianischer Gemeinden, errichtet um das Jahr 780, wird die christliche Botschaft in buddhistischen und taoistischen Begrifflichkeiten wiedergegeben:
„Der glorreiche und ehrwürdige Messias verbarg seine wahre Macht und ,kam als Mensch in die Welt. Er errichtete die Richtschnur der acht Gesetze (die Erlösung der acht Seligpreisungen), schmolz den Staub zu seiner wahren Natur. Er öffnete die Tür der drei Regeln, öffnete (entfaltete) das Leben und löschte den Tod aus. Er hängte die helle Sonne auf, um die dunklen Bereich zu durchbrechen, und alle Dämonen wurden vollständig vernichtet. Er steuerte die gütige Fähre, damit der Mensch zu dem hellen Palast aufsteigen kann. Und so konnten die Menschen endlich ins Jenseits übersetzen. Er vollbrachte alle Werke und stieg genau am Mittag zur Wahrhaftigkeit empor.“ (Zitat nach Jenkins)
Kaiser Wuzung: Edikt gegen Fremdreligionen
Ein jähes Ende nimmt die erste christliche Phase in China Mitte des 9. Jahrhunderts. Konfuzianer und Taoisten überreden den amtierenden Kaiser Wuzung, alle Fremdreligionen im Reich der Mitte zu verbieten. Das entsprechende Edikt aus dem Jahr 845 richtet sich in erster Linie gegen den Buddhismus, der sich in China ausgebreitet hat. Wohl auch in Folge wirtschaftlicher und politischer Krisen kann von religiöser Toleranz in dieser Zeit keine Rede sein. Dazu der Kirchenhistoriker Winkler: „Dieses Edikt geht zunächst gegen den Buddhismus. Doch hat es natürlich alle Religionen betroffen – die ostsyrischen Christen, aber auch Zoroastrier und Manichäer. Da wurden Tempel zerstört, religiöser Klerus wurde massakriert oder abgeschoben. Heutige wissenschaftliche Erkenntnisse gehen von etwa 3.000 Mitgliedern des ostsyrischen, manichäischen und zoroastrischen Klerus aus, denen befohlen worden ist, ins weltliche Leben zurückzukehren. Und den Christen ist auch befohlen worden, sich von den chinesischen Bräuchen fernzuhalten.“
Viel weiß man nicht über das Schicksal der syrischen Mönche und Kirchen in China nach dieser Zeit der Verfolgung: Bis Ende des 10. Jahrhunderts gibt es keine Informationen über das Christentum im Reich der Mitte. Erst gut 200 Jahre nach dem Wirken christlicher Missionare wie Alopen und Bischof Adam fasst die „Religion des Lichtes“ dort wieder Fuß – diesmal kommt sie aber auf einem anderen und weitaus kraftvolleren Weg – mit den Mongolen. Prof. Winkler: „Das ist die zweite erfolgreiche Ausbreitung des syrischen Christentums im 12./13. Jahrhundert. Das heißt, die Mission war anscheinend im zentralasiatischen, mongolischen Bereich noch bestehend, während das Christentum in China im 9. Jahrhundert ausgelöscht wurde.“
Zweite Missionsphase: Die Mongolen
Bereits im 11. Jahrhundert wenden sich der mongolische Stammesverbund der Keraiten am Baikalsee geschlossen dem Christentum zu – es ist die Keimzelle einer längeren Tradition mit weit reichenden Folgen. So sind zur Zeit des Mongolen-Herrschers Dschingis Khan im 13. Jahrhundert – dank der missionarischen Leistungen der ostsyrischen Kirche – bereits etliche turksprachige Völker christlich geworden. „Und diese turksprachigen Völker sind mit den Mongolen in das chinesische Siedlungsgebiet reingekommen. Diese Völker kamen ursprünglich von Zentralasien, von der mongolischen Steppe, sind Uighuren, Keraiten, Öngüt und Naiman. Und während der mongolischen Yuan-Dynastie, der Kaiserdynastie, die die Mongolen übernahmen, wurde im mittelalterlichen China die ostsyrische Christenheit weiter belebt, sie breitete sich aus und erhielt großen Einfluss.“
Einfluss etwa durch Positionen der mongolischen Regierung und im Geschäftsleben. Doch auch auf noch direkterem Weg gewinnt das Christentum in der mongolischen Kultur an Bedeutung, sozusagen im „Herzen“ der Khan-Dynastie. Dietmar Winkler: „Frauen von mongolischen Herrschern waren christlich – das hatte Einfluss auf die Staatsführung, auf das Geschäftsleben, auf die Politik. Das sieht man an den Quellen, die wir haben, die sind sehr beeindruckend. Und wenn man sich das 13. Jahrhundert anschaut, hat man etwa 103 Bistümer und 20 Metropolien von Mesopotamien bis hin nach Afghanistan, Turkestan und Xinjiang.“
Die Ausbreitung der Christengemeinden auf chinesischem Gebiet bezeugten europäische Reiseberichte und archäologische Funde aus dieser Zeit, etwa Inschriften auf Grabsteinen in Syro-Turkisch, Chinesisch und der mongolischen Phags-pa Sprache, so der Experte. Dass das Christentum der Mongolen – ganz praktisch gesehen – ein anderes ist als das des europäischen Mittelalters – auch dafür gibt es Hinweise. Winkler: „Das eine ist, dass es neben dem Khan-Zelt ein Kirchenzelt gegeben hat, das heißt wir haben in der nomadischen und seminomadischen Kultur ein Kirchenzelt. Und auch die Bischöfe haben keinen bestimmten Bischofssitz, sondern es gibt eher Bischofsregionen: Man kann die nicht genau lokalisieren, aber man kann sagen, das ist eben der Bischof von der Region dieser Keraiten, und weil sie immer nomadisch sind, sind sie in dem Sinne auch flexibel.“
Doch auch die Eucharistie bei den mongolischen Christen wäre den Gläubigen aus Rom wohl seltsam vorgekommen: „Was beobachtet wurde, was sehr gut in die nomadische Kultur hineinpasst, dass der Altar ein Sattel ist, auf dem eben die Eucharistiefeier gefeiert wird. Und selbstverständlich, wenn man bei der Eucharistiefeier dran denkt, dass Jesus Christus mit Brot und Wein das Lebensnotwendige genommen hat, und wir den Weinanbau in der mongolischen Steppe natürlich nicht haben – was ist für die Mongolen wichtig? Das Pferd – und deshalb wird bei der Eucharistiefeier die Stutenmilch verwendet anstatt des Weines.“
Der Mongolenbotschafter Raban Sauma in Rom
Ein Sattel als Altar, Stutenmilch als Messwein – die Vielfalt des Christentums ist im 13. Jahrhundert nicht zuletzt aufgrund der erfolgreichen Missionstätigkeit der ostsyrischen Christen zu einer Blüte gelangt. Papst Nikolaus IV. (1288-1292) dürfte ins Staunen geraten sein, als ihm der mongolische Mönch Raban Sauma bei seinem Besuch in Rom von dieser „Kirche des Ostens“ erzählt, die Millionen von Gläubigen und ein Netz aus Kirchenprovinzen in aller Herren Länder ihr eigen nennen kann – sie übertrifft in ihrer Ausdehnung das Gebiet der römisch-katholischen Kirche bei Weitem.
Beachtenswert an der Begegnung dieser beiden Exponenten der „Kirche des Westens“ und „Kirche des Ostens“: Der Kontakt ist respektvoll, und beide Seiten sind begierig, mehr übereinander zu erfahren. Der Papst gestattet dem mongolischen Botschafter, in einer der römischen Basiliken seine ostsyrische Liturgie zu feiern, wie wir aus einem Reisebericht Yahballaha III. entnehmen können: „Nach einigen Tagen nun sprach Rabban Sauma zum Papst: ,Ich wünsche, die Liturgie zu zelebrieren, damit auch ihr unseren Gebrauch seht.’ Da trug der Papst ihm auf, zu zelebrieren, wie er es wünschte. Und an jenem Tag versammelte sich viel Volk, da der mongolische Gesandte zelebrierte.’“
In Rom wird zu dieser Zeit das Osterfest begangen. Raban Sauma wohnt den liturgischen Feierlichkeiten der Karwoche bei. Der Papst spendet ihm am Palmsonntag des Jahres 1288 die Kommunion: „Dann zelebrierte er (der Papst) die Geheimnisse und gab die Kommunion als erstes Raban Sauma (…) Da freute Raban Sauma sich sehr, dass er die Kommunion aus der Hand des Papstes erhalten sollte, und er empfing sie unter Tränen und Weinen, indem er Gott dankte und die Gnade bedachte, die über ihn ausgegossen wurde.’“
Als Bar Sauma Ende des 13. Jahrhunderts nach Rom kommt, ahnt der optimistische Mönch noch nicht, dass dem Christentum in seinem Heimatland China nur ein Paar Jahrzehnte später erneut ein Todesstoß versetzt werden wird: Nach langer Fremdherrschaft der Mongolen wollen die Herrscher der neuen Ming-Dynastie Mitte des 14. Jahrhunderts alles Ausländische aus dem chinesischen Reich verbannen. Die Geschichte der Kirche des Ostens in China kommt damit vorerst zum Erliegen. Ihr Niedergang sei so gründlich gewesen, dass die jesuitischen Missionare, die zweihundert Jahre später China erreichen, als „erste Christen der Region“ angesehen wurden, so Prof. Winkler.
Historische Forschung mit „subtil politischer Bedeutung“
Doch kehren wir an dieser Stelle noch einmal zum Fund von Xianfu zurück, der 1625 gefundenen Steinstele, die frühes christliches Leben in China bezeugt. Die Jesuiten konnten eine Kontinuität des christlichen Glaubens im Reich der Mitte bis dahin nicht beweisen, berichtet Winkler: „Und als nun diese Stele von Xianfu gefunden worden ist, waren die wie elektrisiert, weil plötzlich hat man gesehen, dass es diesen Anknüpfungspunkt, diese Kontinuität ja gäbe.“
Es lässt sich also festhalten, dass das Christentum – mit Unterbrechungen – seit dem 7. Jahrhundert im Reich der Mitte präsent ist. Welche Konsequenzen hat diese Tatsache auf die chinesische Sicht des Christentums im eigenen Land? Während die Jesuitenmission in China bis heute in den Kontext des westlichen Kolonialismus und Fremdeinflusses gestellt wird, kann das Augenmerk auf die frühen Christen in China möglicherweise Skepsis und „Spannungen“ gegenüber dem Westen abbauen, so Winkler – etwa wenn China das Christentum tatsächlich als Teil der eigenen Geschichte begreift. Insofern habe die Forschung in diesem Feld auch eine „subtil politische“ Bedeutung.
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Im nächsten und letzten Teil der Reihe geht es um die ersten Christen in Korea