Jede Videocracy hat ihren Parasiten

»Wärme, Rauschen, Wirbel.

Der Parasit war unvermeidlich.«[1]

Ein italienischer Fernsehabend im Jahr 1976. Im Wohnzimmer flimmert das Quiz eines Lokalsenders über den Bildschirm. Bei der Sendung müssen Zuschauer von zu Hause aus Fragen beantworten. Bei jeder richtigen Antwort wird ihnen ein bisschen heißer. Denn dann erhebt sich die mollige Hausfrau neben dem Moderator im schwarzen Anzug, führt einen kurzen Tanz auf und lässt ein Kleidungsstück fallen. Unbeholfen sind ihre Bewegungen, doch der Strip zeigt Wirkung: Das Format ist überaus erfolgreich. So erfolgreich, dass die Mischung aus Interaktion, Sex und Unterhaltung noch gut dreissig Jahre später in vielfachen Variationen die Kanäle des italienischen Fernsehens füllen wird…

Von dieser Erfolgsgeschichte erzählt der Dokumentarfilm Videocracy (2009), der auf dem Filmfestival von Venedig in der Sektion »Settimana Internazionale della Critica« präsentiert wurde. Der Regisseur Eric Gandini entwirft darin sein Heimatland als »Videocracy«, als Staatsgebilde, in dem der Schlüssel zur Macht in der Beherrschung des Fernsehens und der Bilderwelt liegt. Auf seiner Reise hinter die Kulissen von Berlusconis Medienimperium befragt der Dokumentarfilmer die Bediener der Unterhaltungsmaschinerie: Medienzaren und Produzenten, Regisseure und Paparazzi. Denn wer weiß in einer »Videocracy« nicht besser über Bilder und Macht Bescheid als deren Wirte und Parasiten?

Vom Zapping zur Kulturkritik

Um einen »Parasiten« im besten Sinne soll es auch hier gehen. Die italienische Fernsehsendung Blob[2], seit zwanzig Jahren feste Größe im Abendprogramm des öffentlich-rechtlichen Senders Raitre, besteht fast vollständig aus Ausschnitten des italienischen Fernsehprogramms. In zehn bis fünfzehn Minuten Sendezeit treffen dort täglich Shows auf Nachrichten, Werbung auf Serien, Kinofilme auf Reality. Was auf den ersten Blick wie Zapping durch Genres und Kanäle anmutet, ist jedoch mehr als exaltierte Sinnvernichtung. Zwanzig Jahre Politik und Populär-Kultur, ein rauschender Fluss aus Bildern, Stimmen und Ereignissen, ging in dem kleinen »Fenster zum Fernsehen« bis heute über den Bildschirm. Von den neuen Unterhaltungstrends der Achtziger über die politischen Skandale der Neunziger bis hin zur Vermarktung der Anschläge des 11. Septembers im Fernsehen hat die Sendung alle Ereignisse, die Italien mehr oder weniger bewegten, behandelt. Dabei hat sich Blob im Laufe der Zeit zu einer parodistischen Form der Kulturkritik entwickelt. Der italienische Fernsehwissenschaftler Aldo Grasso beschreibt die Sendung als »eine Form von Fernsehkritik nur aus Bildern, die uns das Fernsehen jeden Abend in ungeschönter Form zeigt«[3].

Kein Kommentar

Die Besonderheit der Sendung im Vergleich zu anderen Formen »parodistischer Fernsehkritik«[4] ist in der Tat der fehlende Kommentar. Dekontextualisierung und Montage sind die Hauptmerkmale des collagenartigen Programms. Einen Erzähler oder Moderator gibt es nicht. Nur ein links oben im Bild prangender farbiger Schriftzug verpasst den wechselnden Fernsehbildern sloganähnliche Überschriften, die häufig Variationen des Programmtitels »Blob« sind. Im Entstehungsjahr 1989 war die an Dada und Popart erinnernde Sendung fernsehästhetisch Avantgarde. Offenbar nicht nur in Italien, denn in anderen europäischen Ländern trat erst Jahre später Vergleichbares auf. (…)

Rot auf weiß

Viele Blobausgaben, die sich mit der nationalen Politikerszene beschäftigen, sind satirisch getaltet. Fernsehausschnitte aus dem Programmbereich der Information und Politik haben in Blob im Laufe der Sendegeschichte anteilmäßig zugenommen; das Verhältnis der zitierten Shows und Informationssendungen hat sich seit 1989 etwa umgekehrt. (…) Kein anderer verkörpert wohl besser die Verquickung von Spektakel und Politik, Bild und Macht als der italienische Unternehmer und Ministerpräsident Silvio Berlusconi. Die zwanzigjährige Sendegeschichte von Blob lässt sich als »televisuelles Parallelkommentar« zur Karriere und Selbstinszenierung des Medienmoguls lesen. (…)

»Cronacarte«

Im April 2009 feierte das Programm Blob sein 20-jähriges Bestehen. Tausende Ausgaben sind bis heute über den Bildschirm gegangen. Die Gesamtheit der Sendungen kann als medien- und zeitgeschichtliches Zeugnis verstanden werden, das Themen und Ästhetiken des italienischen Fernsehens abgebildet hat. (…) In Italiens »Videocracy« ist Blob eine paradoxe Form des Widerstandes. Die Sendung betreibt eine »Politik des subversiven Zitates«[42]. Sie ist vollständig abhängig von den Inhalten des Fernsehens, selbst Teil des Massenmediums und nutzt die spektakuläre Schubkraft des Fernsehens parasitär aus. Andererseits laufen Ästhetik, Produktionsweise und Selbstverständnis von Blob den Standards des Fernsehens zuwider. Die gültigste Definition der Sendung gibt wohl der Blobautor Vittorio Manigrasso. Er fasst Blob als »Cronacarte«[27], als Sendung mit Aktualitätsbezug – cronaca -, die Inhalte und Formen der Massenkommunikation durch Montage und künstlerische Mittel – arte – verfremdet.

 

*Auszug des Artikels:

A. Preckel: „Blob – Jede Videocracy hat ihren Parasiten“, in: Türschmann/Wagner (Hg.): „TV global. Erfolgreiche Fernseh-Formate im internationalen Vergleich„, Transcript Verlag Bielefeld 2011.

 

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