Ethik für Chinas Wirtschaft?

Zurück in Beijing. Die Baustelle neben meinem Hotel wächst in nur ein Paar Tagen um zwei Etagen: Die Arbeiter arbeiten Tag und Nacht, selbst am chinesischen Feiertag wird gehämmert und Zement gerührt. China erlebte in den letzten Jahrzehnten einen beispiellosen Wirtschaftsaufschwung. Immer mehr Menschen im Reich der Mitte wollen ihren Teil am Kuchen und fordern zugleich Grundrechte ein. Breiten Wohlstand kann Chinas Führung noch nicht garantieren; eines hat sie aber verstanden: Prinzipien wie Teilhabe und ethische Prinzipien in der Wirtschaft können „nützlich“ sein.

DSC01901  Ethik, Nachhaltigkeit, Umwelt- und Verbraucherschutz – in diesen Bereichen habe es in China in den letzten Jahren kleine Fortschritte und Ansätze gegeben – und zwar im Bereich der Wirtschaft. Das beobachtet der Wirtschaftsethiker Stephan Rothlin Rothlin. Der gebürtige Schweizer ist Generalsekretär des Instituts für internationale Unternehmensethik in der chinesischen Hauptstadt und lehrt Wirtschaftsethik im chinesischen Kontext.

„Natürlich sind diese Prinzipien gerade auch wichtig angesichts dieses rasanten wirtschaftlichen Wachstums in China, dieses enormen, historisch einmaligen Zuwachses innerhalb der vergangenen 30 Jahre. Wie kann man Entwicklung humanisieren, so dass sie nicht nur einer kleinen privilegierten Schicht zugute kommt?, taucht z.B. als Frage auf.“

Dass ethische Fragen im Zusammenhang mit wirtschaftlichen Prozessen auftauchen, habe in China praktische Gründe, so der Beobachter. Den „Nutzen“ von Ethik beziehungsweise die negativen Folgen einer Wirtschaft ohne Ethik hätten konkrete Erfahrungen aufgezeigt: Als Beispiele nennt der Experte den Milchskandal von 2008, bei dem rund 300.000 Kinder durch Melanin verseuchtes Milchpulver erkrankten, und die jüngste Selbstmordserie im weltweit größten Elektronikhersteller Foxconn. Beide Vorfälle sorgten nicht nur in China für einen Skandal, sondern wurden auch im internationalen Kontext wahrgenommen – eine Lehre für die Protagonisten von Industrie und Wirtschaft im Reich der Mitte:

„Dass man da eben sagen kann: ,Hier seht ihr ganz konkret, was rauskommt, wenn Ethik keine Rolle spielt!’ Im Anschluss an die olympischen Spiele hat der Milchskandal nicht nur der entsprechenden Firma oder der Region Hebei geschadet, sondern auch insgesamt dem Ansehen Chinas. Weil man dann von den Medien her schließt: Wie kann es sein, dass kriminelle Banden einen solchen Einfluss ausüben können?“

Bürgerbewusstsein entwickelt sich

Unbequeme Fragen stellten auch immer mehr chinesische Bürger, so Rothlin weiter: Dank eines steigenden Bildungsgrades und dank des Internet steige das Bewusstsein für eigene Rechte. Auch das Fernsehen spielt zum Teil eine Rolle: So trat Rothlin zuletzt als Wirtschaftsethiker im nationalen Fernsehen (CCTV) auf, das eine Milliarde Zuschauer erreicht. Beim Nachwuchs der chinesischen Wirtschaft sei die Bereitschaft gewachsen, gesellschaftliche und wirtschaftliche Entwicklung auch aus ethischem Blickwinkel zu betrachten. Rothlin hat guten Einblick in die chinesischen Business Schulen:

„Ich bin selten billig optimistisch, ich denke, es ist ein sehr hartes Pflaster hier. Aber ich sehe auch, dass die Bereitschaft, sich auf diese Themen einzulassen, seit 19 Jahren wirklich größer ist. Man hat weniger diese zynischen Reaktionen – in den Handelsschulen und Business Schools gibt es inzwischen mehr Publikum, das sich durchaus auf diese Fragen einlässt und zugibt, dass sie wichtig sind für Chinas Entwicklung. Und ich denke, dass die Geschäftskreise eine wichtige treibende Kraft in China sind. Es ist einseitig, nur auf Regierungskreise zu setzen.“

Dass Ethik, die Wahrung von Menschenrechten und moralische Werte auch „nützlich“ sein können, hat das aufstrebende China in den letzten Jahren vor allem im Kontakt mit dem Ausland begriffen. Viel werde in Presse und Internet über die eigene Identität und die Beziehung zum Westen diskutiert, erzählt die Journalismusprofessorin Nailene Wiest aus Beijing. In diesem Prozess der Selbstvergewisserung tauchten dabei auch Vorbilder des Westens wieder auf. So etwa der China-Missionar und Jesuit Matteo Ricci, der jüngst auf der Titelseite eines populären chinesischen Wochenmagazins landete.

„Boss-Christen“: Ethik in der Wirtschaft

Die Anwendung ethischer Prinzipien in der Wirtschaft zeigt sich in China heute zum Beispiel konkret am Phänomen der so genannten „Boss-Christen“. Das sind Unternehmer, die ihre Unternehmen aus einem christlichen Gedanken heraus führen und auf lokaler Ebene auch politischen Einfluss haben. Roman Malek, China-Experte aus Sankt-Augustin, beobachtet diese neuen Protagonisten der chinesischen Gesellschaft schon länger:

„Das sind Unternehmer, Bosse aus Wenzhou von der Ostküste Chinas, die ihre Betriebe aus christlichem Gedanken heraus führen. In den Firmen gibt es zum Beispiel Räume für Meditation über die Bibel; es wird jeden Tag eine Weile meditiert und es werden Lieder gesungen als Motivation.“

Nicht selten sind es diese „Boss-Christen“, die den Vorbehalten der Regierung gegenüber dem Christentum nach und nach den Saft abdrehen. In Wenzhou verhandeln sie zum Beispiel mit den lokalen Behörden – wohlgemerkt nicht mit dem staatlichen Religionsbüro – über den Bau von Kirchen. Die Stadt werde inzwischen schon „Chinas Jerusalem“ genannt, erzählt Malek.

„Natürlich haben sich hier bestimmte Vorteile entwickelt, zum Beispiel dass die Arbeitsmoral entwickelt wird, aber man muss auch die Begründung sehen. Die Boss-Christen verstehen sich eben nur als Instrumente Gottes auf dieser Erde und fühlen sich auch verpflichtet, durch ihren Wohlstand und das, was sie erreicht haben, anderen Menschen zu helfen. Und das breitet sich in ganz China aus. Diese Form des Christentums gibt es sowohl bei den Katholiken als auch bei den Protestanten.“

Angesichts einer sich immer weiter öffnenden Schere zwischen Arm und Reich gewinne auch das Konzept der Nächstenliebe in China an Attraktivität, so Malek weiter. Überhaupt werde die Frage nach Sinn und Richtung der sich schnell verändernden chinesischen Gesellschaft immer öfter gestellt.

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