Unterwegs in der chinesischen Provinz

„Der Himmel ist hoch und der Kaiser ist fern“ pflegen die Chinesen zu sagen. Weit von der Hauptstadt laufen die Dinge anders, ist damit gemeint. Ein Besuch in der chinesischen Provinz.

Im Regionalzug nach Handan sitzen Bauern mit vollgestopften Tüten, ein Paar junge Leute mit Handys und Rentner mit faltigen Gesichtern. Draußen ziehen Gemüse-, Baumwoll- und Erdnussplantagen vorbei – man lebt hier vor allem von der Landwirtschaft. Seit Ende der Planwirtschaft hat sich die Situation nicht gerade verbessert, viele Bauern kämpfen mit der Armut, viele gehen in die Stadt, suchen Nischen in einem Land, das sich rasant verändert. Schnelles Geld ist mit guten Kontakten im Baugewerbe zu machen, auch hier ragen immer mehr halbe Häuser in den Himmel.

DSC02072  Nach einer holprigen Busfahrt erreiche ich das Frauenkloster in Daming, einer Kleinstadt 500 km südwestlich von Beijing. Die Kongregation der Schulschwestern Unserer Lieben Frau von Kalocsa ist seit Anfang des 20. Jahrhunderts in China. Der ursprünglich aus Ungarn stammende Orden zerstreute sich während der Kulturrevolution, ein Teil floh ins Ausland, der andere Teil tauchte in den Untergrund ab. Heute werden die Schwestern vom Staat geduldet, ja werden sogar ermutigt, soziale Arbeit zu tun – Kirche ist in China willkommen, wenn sie das löchrige Sozialsystem stopft.

Beten, helfen und lehren ist das Charisma der katholischen Kongregation. Seit 1984 unterhalten die Schwestern in Daming ein Waisenhaus für körperlich und geistig behinderte Kinder, auch ein Altenheim gibt es, eine Kirche, eine Schule für Novizinnen und einen Gemüsegarten, wo fast alles wächst, was die einfache, doch gute Küche hier so braucht. Drei Mal täglich wird gebetet, um sechs Uhr früh, mittags und abends, ansonsten bestimmt Arbeit den Alltag der Frauen, die keine Schwesterntracht tragen und auch ansonsten „ihren Mann“ stehen: Sie fahren Auto, reparieren kaputte Geräte, die Jüngeren tragen Jeans und Turnschuh.

Ordensoberin Schwester Liu Shumin spricht sanft, doch ihre Stimme zittert, als sie auf das große Foto an der Wand deutet: „Das ist Mutter Wu Yong bo, die hier in China unsere Kongregation aufgebaut hat. Sie war zwölf Jahre lang im Gefängnis. Drei Jahre lang konnte sie dort nur liegen, sie wurde krank und verlor ihre Zähne.“ Schon vor der Kulturrevolution hatte es regelrechte Verfolgungen gegeben, erzählt Liu: „Die Polizei schlug die Schwestern auf offener Straße, und riss ihnen die Kleider vom Leib. (…) Als Mutter Wu Yong bo 1979 endlich entlassen wurde, erkannte sie die Peiniger wieder, sie vergab ihnen und half ihnen sogar. Ihr Glauben war sehr stark.“

Viele der alten Schwestern waren zu diesem Zeitpunkt tot oder mussten heiraten – um zu beweisen, dass sie der Religion abgeschworen hatten. Mit sechs Frauen baute Wu Yong bo den Orden neu auf. Trotz eigener bitterer Armut kümmerten sich die Frauen um Kinder, Alte und Kranke, und bauten mit Unterstützung der Jesuiten das erste Alten- und Kinderheim der Gegend auf: „In dem Altenheim wurden viele Leute aus dem Gefängnis aufgenommen, die nachher keine Familie mehr hatten. Als ich 1995 in den Orden eintrat, habe ich Schwester Wu Yong bo noch kennen gelernt, sie starb im Jahr 2002, da war sie 87.“

DSC02089  Auch die Einwohner des Altenheims nebenan erinnern sich an diese schwere Zeit, einer von ihnen war damals Frisör: „Ich mochte den Beruf und habe den Leuten für ’n Appl und Ei die Haare geschnitten. Meine Kunden zahlten nur 5 Prozent des Preises und ich habe kaum etwas verdient.“ Dass er Christ sei, wurde ihm damals fast zum Verhängnis. „Ich durfte meinen Glauben nicht zeigen, sonst wurde man eingesperrt. Man durfte ja nicht mal Radio hören, auch Bücher waren verboten. Heute habe ich solche Dinge, kann frei beten und teile das mit anderen. Die Kirche wird langsam wieder aufgebaut, darüber bin ich sehr froh. Das heißt natürlich nicht, dass es da keine Probleme gäbe“, ergänzt er und schweigt.

Die Kongregation der Schulschwestern Unserer Lieben Frau von Kalocsa zählt heute in ganz China etwa 100 Schwestern, erzählt Schwester Liu. Sie selbst wurde 1997, zwei Jahre nach dem letzten Gelübde, als noch junge Frau zur Oberin gewählt. Dafür habe es die Bestätigung der ungarischen Ordensoberin gebraucht. Auch die fernen Mitschwestern litten während des Kommunismus in unter Verfolgung; erst nach dem Fall des eisernen Vorhangs konnte der Kontakt zwischen beiden Ordensseiten wieder hergestellt werden.

Daming liegt in der chinesischen Provinz Hebei, einer „Katholikenhochburg“. Viele Katholiken leben hier, doch könnten sie es leichter haben – immer wieder hört man von Kontrollen und Schikanen durch lokale Kader. Ich frage Schwester Liu, wie heute das Verhältnis zu den lokalen Behörden ist: „Wir werden stillschweigend akzeptiert. Wir bekommen zwar keine finanzielle Unterstützung, aber es gibt inzwischen schon etwas mehr Hilfe – in dem Sinne, dass unsere Kinder im Heim jetzt manchmal als Einwohner gemeldet werden. Das war früher nicht so.“ Ohne Hucao – Einwohnermeldung – ist man in China niemand, man hat zum Beispiel kein Recht auf den Schulbesuch. Vor allem für die Kinder der sog. „Wanderarbeiter“, die ihre Heimatorte auf der Suche nach Arbeit verlassen, ist das ein großes Problem.

„Daming wird einmal ein sehr bedeutender Ort in der ganzen Welt sein“ habe Mutter Wu Yong bo gewusst, auch das Erdbeben von Tangshan im Jahr 1976 habe sie vorausgesehen, so Schwester Liu: „Sie hatte einen Sinn für die Zukunft, visionäre Kräfte. Und sie sagte nie: ,Ich werde sterben‘, sondern immer nur: ,Ich werde gehe’n. An ihrer Geschichte können vor allem die jungen Schwestern wachsen. Wir sind froh, hier in Daming zu sein.“ Und fast entschuldigend fügt sie hinzu: „Ich kann nichts ausrichten, doch ich bin Gottes Werkzeug.“

Don Bosco Kinderheim: „Manchmal sind wir wütend auf Gott“

Was sie genau damit meinen könnte, ahne ich, als ich das Don Bosco-Heim für Kinder in Daming besuche. Dort leben um die 40 Kinder zwischen drei bis 18 Jahren mit geistiger und oder körperlicher Behinderung. Betreut werden sie von einer Hand voll Schwestern und ein Paar ehrenamtlichen Helfern. Das Projekt finanziert sich über Spenden aus dem Ausland wie die deutsche und österreichische Jesuitenmission, Nachbarn geben Kleidung und ein wenig Essen, staatliche Zuschüsse gibt es keine.

DSC02133  Die Schwestern führen mich zu einem zarten Mädchen mit vorwitzigen dunklen Zöpfen, das still auf einem Stuhl sitzt. Es ist älter als die anderen Kinder, wirkt zerbrechlich und in sich versunken. „Dieses Mädchen haben wir in einem Schweinestall gefunden, da war sie um die fünf. Sie konnte nicht sprechen und nur krabbeln. Wir kennen ihre Eltern nicht. Wir haben sie Ni feinfein genannt, das heißt Die-Stille. Heute ist sie vielleicht um die 19, niemand weiß es genau.“ Die junge Frau lässt sich von der Schwester nicht berühren, die ihre Hand liebevoll auf ihre Schulter legen will. Sie wiegt sich auf dem Stuhl und atmet hörbar aus. Ein und aus. Ihr Bein ist über ein Gummiband locker mit dem Tischbein verbunden. Jahre habe man gebraucht, um einen Kontakt zu herzustellen, sie an den Umgang mit anderen Menschen zu gewöhnen. Das Gummiband gebe Ni Feinfein ein wenig Sicherheit, sagen die Schwestern, zumindest wirke sie dann ruhiger.

„Manchmal legen die Leute ihre Kinder einfach hier vor dem Tor ab. Wenn eine Frau ein behindertes Kind zur Welt bringt, ist die Familie sehr unglücklich und möchte es loswerden. Die Menschen hier sind sehr arm, sie haben keine Möglichkeit, für die Kinder zu sorgen oder ihnen eine Ausbildung zu geben.“ 

Eltern in China können heute ein zweites Kind haben: die Gebühr dafür entspricht drei Jahresgehältern eines Taxifahrers. Armut, Ein-Kind-Politik und der immer noch verbreitete Vorzug männlicher Nachkommen führen vor allem auf dem Lande dazu, dass viele Kinder abgetrieben oder ausgesetzt werden. Und Mädchen, die in Augen der Eltern irgendwie „anders“ sind als die anderen Kinder, vielleicht weil sie später sprechen oder eine körperliche Behinderung haben, sind doppelt benachteiligt und landen nicht selten buchstäblich „im Müll“. Dass es auch anders geht, kann das Don Bosco-Heim ein Stück weit zeigen, allerdings wiegen Armut und Vorurteile der Menschen häufig allzu schwer.

Turbulent geht es an diesem Nachmittag im Heim zu, viel wird gelacht. Sanft ist der Umgang der Schwestern mit den Kindern. Auch wenn die Betreuung hier auch teilweise so selbstgezimmert scheint wie das Spielzeug, das verstreut auf dem bunten Linoliumboden liegt.

An ein Paar selbstgezimmerten Plumpsklos und Rollstühlen vorbei gehen wir in einen der Nebenräume. Es ist kalt. Vier Kleinkinder liegen hier in Betten, auf schmutzigem Stoff im Halbdunkel. Aus einer selbst gemachten Windel aus Stoff und Plastiktüten gucken zwei Streichholzbeinchen und –ärmchen heraus. Ein kleines Mädchen mit einem großen Bauch schaut mich an: „Sie ist drei Jahre alt, kann sich nicht bewegen, nicht sprechen, gar nichts. Wir wissen nicht, was mit ihr ist. Wir haben sie zu einem Arzt nach Beijing gebracht, er meinte, mit fünf oder sechs könne man sie vielleicht operieren.“

Von einer angemessenen medizinischen und entwicklungspsychologischer Betreuung, von professioneller Physiotherapie, von staatlicher Unterstützung und Kampagnen für Inklusion können diese Kinder nur träumen. Auf dem chinesischen Lande, das weit weg ist vom internationalen Publikum und den Medien der Hauptstadt, muss Liebe reichen, so gut es eben geht.

DSC02124  Den anderen der insgesamt 46 Kinder im Don Bosco-Zentrum geht es besser als den Kleinkindern, die ich gerade gesehen habe. Sie spielen viel und gehen teilweise zur Schule, diejenigen mit größeren Behinderungen werden im Heim von den Schwestern unterrichtet: Chinesisch und Mathe und ein wenig Geschichte, Sprechpraxis und selbst kreierte Bewegungstherapie sind die Fächer. Die kleine Antony, ein quirliges Mädchen von vielleicht sieben Jahren, ist schon seit ihrer Geburt hier, sie hat ein Paar Brocken Englisch gelernt, die sie mir vorführt: „My name is…“. Anschließend spielt sie auf dem Keybord etwas vor. Die anderen Kinder beginnen im Aufenthaltsraum zu toben, Antony flitzt im Rollstuhl hinterher.

„Die Kinder helfen mir, täglich in Gott zu wachsen, ich bin innerlich froh und tue das gern“, sagt mir eine der Helferinnen bei den Dampfnudeln in der Gemeinschaftsküche, es ist inzwischen Zeit geworden für das Abendbrot. Eine junge Novizin erzählt, ihre Eltern hätten ihr immer davon abgeraten, in den Orden einzutreten: „Meine Familie sagt mir jedes Jahr, überlege dir gut, ob du Schwester sein willst. Wir lieben dich doch. Ich aber liebe Gott.“ Und Schwester Liu ergänzt besonnen: „Manchmal sind wir wütend auf Gott, aber diese Wut kommt auch von Gott und das ist gut.“

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Nächster Teil: Ethik für Chinas Wirtschaft?

2 Gedanken zu „Unterwegs in der chinesischen Provinz

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