Sinnsuche in China: Religion wird attraktiver

Die Hinweise darauf häufen sich, dass Religion in China heute auch als Form der Sinnsuche und Wiederentdeckung moralischer Werte gesehen wird, als Alternative in einer Gesellschaft, die zwischen Aufschwung und Konsumismus, Geschichtsvergessenheit und bröselnder politischer Ideologie einen Weg in die Zukunft sucht. Der Zulauf zum Christentum, der aktuell im Reich der Mitte zu beobachten ist, ordnet sich dabei in eine allgemeine Sinnsuche ein.

Handlesen nicht nur im Hinterhof

DSC01906  So nehmen in China etwa immer mehr Leute die Dienste eines Wahrsagers in Anspruch, erklärt mir der Sinologe Michael Lackner von der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnbergr, der sich im Rahmen eines internationalen Forschungsprojektes mit chinesischen Praktiken der Zukunftsbewältigung befasst. Nach Jahren der Verbannung mantischer Praktiken blickten die Chinesen heute immer öfter und öffentlicher in die eigene Zukunft, so Lackner:

„Zum einen fallen Kontrollen der kommunistischen Partei weg, das heißt insgesamt ist ja die Religionspolitik etwas toleranter geworden, und die Wahrsagung gehört im weitesten Sinne zu dem, was die Partei über Jahrzehnte als Aberglauben verdammte inklusive der Religion. Und zum anderen besinnen sich die Leute auf ihre seelsorgerlich-therapeutischen Wurzeln sozusagen. Und die verfassten Religionen Chinas, außer im Islam und Christentum, kennen eben keine wirkliche Seelsorge. Wir haben Ansätze dazu im Buddhismus, aber die sind wahrscheinlich von protestantischen Missionaren eingebracht worden.“

Die traditionellste und in China am stärksten verbreitete Wahrsagung ist die anhand des Geburtshoroskops, bei welcher Stunde, Monat und Jahr der Geburt bestimmte Qualitäten zugeordnet würden. Eine andere Methode ist das so genannte „Buch der Wandlungen“, das als Entscheidungshilfe dient. Es gebe aber noch viel mehr, so Chinakenner Lackner, und dies seien alles Praktiken, die China derzeit „wiederentdecke“. Was sind die tieferen Ursachen dafür?

„Es gibt natürlich eine allgemeine Sinnkrise: Die Werte der kommunistischen Partei sind Lippenbekenntnis, aber man hat nicht den Eindruck, dass die Leute noch wirklich daran glauben. Christliche Kirchen haben großen Zulauf, gar keine Frage, sie haben immer stärkeren Zulauf. Aber diese traditionellen Praktiken haben eben auch sehr starken Zulauf wie der Buddhismus natürlich auch auf seine Weise. Der Verfall der Disziplin, der oktruierten Werte von oben… Und gut, dazu kommt natürlich auch, dass die Leute insgesamt sehr unzufrieden sind mit dem reinen Konsum. Der reine Konsumismus mag sehr viele Menschen befriedigen – das ist ja auch catching up, die müssen aufholen in vielerlei Hinsicht, müssen sich Luxuswaren kaufen oder einfach auch nur Artikel zur Deckung des täglichen Bedarfes. Aber das ist jetzt so möglich, dass viele Leute schon saturiert sind. Und die brauchen dann wieder – würden wir ganz konservativ sagen – Werte.“

Es gebe auch Gerüchte, dass selbst Mao Tse Tung sich Wahrsagern bedient habe, so Lackner. Und auch die heutigen chinesischen Politiker könnten sich vom Interesse am Blick in die Zukunft nicht frei sprechen, weiß der China-Kenner.

Jude in Peking: Leute sind stark auf der Suche

DSC01985  Eine „allgemeine Sinnkrise“, keine Lust mehr auf den reinen Konsum, zugleich eine Erosion der politischen Ideologie – Faktoren, die den Zulauf zu den Religionen in China begünstigen? Eine Bestätigung dieser These bekomme ich von jemandem, dessen Religion in China überhaupt nicht offiziell anerkannt ist, einem Juden.

Ich treffe den jungen Mann, der zur amerikanischen jüdischen Gemeinde Pekings gehört, in einem Hotel. Es ist schon spät, die Lobbybar leer, wir sind ungestört. Ari rückt seine Kippa zurecht und macht es sich auf dem Ledersofa bequem. Dann fängt er an zu erzählen. Ja, es gebe da eine „moralische Leere“ in China, sagt er – „seit dem Niedergang Maos und dem Kult um seine Person – er war ja nicht nur einfach ein politischer Führer, sondern es wurde eine ganze Religion um ihn herum aufgebaut, er war wie ein Gott.“

Heute lehnen die Leute das kommunistische Projekt dagegen weitgehend ab, fährt er fort und bringt ein Beispiel: „Das Wort für Genosse, Tong zhi, ist heute die gebräuchliche Selbstbezeichnung von Chinas Schwulen und Lesben! Genosse-Geliebter sozusagen. Die Leute nehmen einfach die alten kommunistischen Wörter und lachen drüber, sie kritisieren sie ganz offen. Und sie sprechen viel über Fortschritt, seit Deng Xiaopings großer Reform- und Öffnungspolitik im Jahr 1978.“

Was Mao bei der Kulturrevolution in den 60er Jahren getan habe, deutet Ari als „Schritt heraus aus den traditionellen Religionen und Glaubensrichtungen Chinas“, zu denen Daoismus und Buddhismus, doch auch der Aberglauben gehörte. „Heute haben wir also die Abwesenheit dieser Triebkräfte und Traditionen, aber wir haben auch eine Gesellschaft, die sehr geldfixiert ist. Ich denke, dass die Menschen sehr gierig danach sind, viel Geld zu verdienen und ihren Status zu verbessern.“ Hier aber setze auch das Nachdenken darüber ein, „worum es eigentlich geht“, so der junge Mann, der kein Blatt vor den Mund nimmt.

„Denn die Leute wachsen ja nicht mal mit einem Erbe auf, das sie ignorieren – sie wachsen ganz ohne Erbe auf! Es gibt in diesem Sinne keine aktive Ablehnung. Viele amerikanische Juden scheren sich nicht um religiöse Dinge, aber sie identifizieren sich immer noch als Juden. Aber die Chinesen, die haben das nicht, sie haben gar nichts! Und deshalb suchen sie jetzt ganz stark nach so etwas.“

Religiöses Pseudowissen?

Die gute alte Frage nach dem Sinn also, den man in einer Religion oder esoterischen Hobbies zu finden sucht. Sind die Chinesen bei dieser Suche, wenn man sich einmal den Zulauf zu den Religionen in China ansieht, mehr am Judentum oder am Christentum interessiert? Aris Eindruck: „Ich denke, viele Leute sind mehr am Christentum interessiert. Unter anderem, weil das Christentum legal ist. Von zum Christentum Konvertierten gibt es viele, ich denke, das kommt auch von einem aktiven Anwerben.“

Allerdings wüssten viele dieser „neuen Christen“ aber gar nicht genau, was es mit dem Christentum auf sich habe, hat er beobachtet: „Was wirklich auffällig ist, und ich habe viele Christen getroffen – dass die keine Ahnung vom Christentum haben! Und wenn die mir erzählen, was ihnen am Christentum gefällt, sagen sie, du kannst als Christ auch zum buddhistischen Tempel gehen. Das ist wohl typisch chinesisch, ein bisschen Daoismus und ein bisschen Buddhismus zu machen – Hauptsache es funktioniert!“ Überhaupt beobachtet er bei diesen Chinesen ein sehr „praktisches“ Verständnis des Glaubens: „Ich weiß nicht, wie sehr sie das Konzept des Glaubens und der Erlösung überhaupt kennen. Ich glaube, sie denken da eher in kleinerem Sinne und fragen sich, was es ihnen im täglichen Leben bringen kann, nach dem Motto: Macht mich Jesus reich, wenn ich zu ihm bete? Sie sagten mir aber auch: Was wir am Christentum mögen, ist, dass es nicht versucht, anderen diesen Glauben aufzuzwingen.“

Dass die Sinnsuche in China heute auch in Chinas Wirtschaft angekommen ist, zeigt das Phänomen der sog. Boss-Christen. Darüber mehr in einem der nächsten Kapitel.

 

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