Folgen wir den Spuren des Jesuiten Matteo Ricci durch das heutige China. Erste Station: Macao bei Hongkong, an der Südküste des Mega-Reiches, das Sprungbrett der Chinamission. Hier lernten Ricci und Schall von Bell Chinesisch, hier entstand die erste westliche Universität im Fernen Osten. Zweite Station: Peking. Lange Jahre brauchte Ricci, um dorthin zu gelangen, ebenfalls lange, um sich die Gunst des Kaisers zu erwerben.
Als die Jesuiten Mitte des 16. Jahrhunderts auf der Halbinsel Macao landeten, war die portugiesische Kolonie Knotenpunkt für den Überseehandel zwischen Goa, Lissabon und Nagasaki. Der europäische und vor allem christliche Einfluss ist in der Küstenstadt auch heute unübersehbar: Die von Kolonialbauten gesäumten Straßen haben portugiesische Namen wie „Rua de Santo António“ und „Estrada do Repouso“; 15 Prozent der Bevölkerung sind katholisch.
„Las Vegas des Ostens“
Den Hafen säumen heute Hochhäuser, zwar nicht so viele wie im benachbarten Hongkong, aber auch hier rollt der Rubel: Die Haupteinnahmequellen von Macao, das auch „Las Vegas des Ostens“ genannt wird, sind der Tourismus und das Glücksspiel. Macao ist China, aber irgendwie auch nicht: Seit 1999 ist die ehemalige Kolonie Sonderverwaltungszone der Volksrepublik, sie hat eine eigene Währung, und auf den Straßen herrscht wie in England Linksverkehr.
Vom Hafen aus wende ich mich der Innenstadt zu. An Feinkostläden mit portugiesischem Mandelgebäck und chinesischen Speisen vorbei führen kleine Gassen in die Altstadt. Dort ragen Ruinen der Pauluskirche auf; die „Ruinas de Sao Paolo“ sind heute Wahrzeichen von Macao und Magnet für Touristen und Pilger. Die Basilika brannte 1835 nieder, was blieb war die Fassade, sie wurde restauriert: Darauf wachen die vier jesuitischen Heiligen Francisco de Borja, Ignatius von Loyola, Francisco de Xavier und Aloisius von Gonzaga, zwischen orientalischen Ornamenten und direkt unter der Jungfrau Maria und der personifizierten Dreifaltigkeit.
Im hinteren Bereich der Anlage befindet sich heute eine Gruft mit den Reliquien japanischer und chinesischer Märtyrer und ein Museum. Hier wird unter anderem dem italienischen Jesuiten Alessandro Valignano gedacht, der Ricci nach China entsandte. Auf dem Gemälde „Os Mártires do Japão“, deutscher Titel „Die Märtyrer von Nagasaki“, ist die Kreuzigung franziskanischer, jesuitischer und japanischer Missionare dargestellt. Sie wurden 1597 auf Befehl der japanischen Regierung hingerichtet. Ein interessantes Detail: Die Jesuiten stehen auf dem Bild etwas abseits von ihren franziskanischen Mitbrüdern – die beiden Orden verstanden Chinamission etwas unterschiedlich, was sich in der bildlichen Trennung zeigt.
Von der Pauluskirche im Stadtzentrum geht’s an einem Park mit chinesischem Pavillon und Goldfischteichen vorbei zum Macau Ricci Institut. Die 1999 gegründete Kultur- und Forschungseinrichtung will Riccis Erbe heute fortführen; sie versteht sich als Katalysator für kulturellen Austausch zwischen China und der Welt.
China will heute in der Welt zu Hause sein
Ricci ist vielen Chinesen heute ein Begriff – das meint der Institutsleiter Artur K. Wardega. Dass der Missionar im Gedenkjahr auch von institutioneller Seite mehr Aufmerksamkeit erfährt, deutet der Jesuit so: „Das Gedenken an Matteo Ricci zeigt Chinas Willen zu mehr Universalität. China will sich als starke Kultur zeigen, die Kontakte mit Spezialisten aus dem Ausland pflegt, besonders zu Europa.“
Wardega hat selbst französisch-polnische Wurzeln; er studierte in Krakau Musik, in Paris Sinologie und in Taiwan Theologie. Chinesisch begann der Pole im Jahr 1989 zu lernen, als in Europa der eiserne Vorhang fiel. Die Europäische Kultur könne China als Spiegel für das eigene kulturelle Erbe dienen, meint er: „Auf technischem Niveau bekommt das Land sehr viele Inputs aus dem Westen, doch im humanistischen Bereich sieht es spärlich aus. Und diese Lücke ist schmerzhaft für China. Sie wollen die besten Maler und Musiker haben, spüren aber einen Mangel, denn die eigenen Wurzeln sind verschüttet. In diesem Sinne hat Ricci für China etwas geöffnet.“
Das jesuitische Erbe in China liegt Wardega und seinem Institut am Herzen. So versucht man zum Beispiel derzeit mit dem Übersetzungsprojekt „Acta Pekinensia“ einen wichtigen Abschnitt der Jesuitenmission in China zu dokumentieren: Die gesammelten Briefe und Berichte des deutschen Jesuiten und Apostolischen Notars Kilian Stumpf (1655-1720) und anderer Missionare werden transkribiert und ins Englische übersetzt. Auf 1.400 Seiten ist dort in Latein und anderen Sprachen ein wichtiger Zeitabschnitt des Ritenstreites handschriftlich abgebildet (1705 bis 1712).
Christentum als Wertebringer?
Im akademischen Bereich sei in China ein zunehmendes Interesse am Christentum zu beobachten, erzählt Wardega: „Universitäten in Peking, Shanghai und Nanchang forschen zum Christentum, spezialisieren sich auf Hebräisch und Aramäisch, und suchen in den Originaltexten nach der Essenz dieser Religion. Und dann werden immer mehr Seminare eröffnet und Priester ausgebildet. Praxis und Wissen um das Christentum schaffen neue Begegnungen. Das ist ein Wachstumsprozess, und es ist interessant zu beobachten, wie der bewerkstelligt wird.“
Dass die europäische Kultur mit der Geschichte des Christentums untrennbar verbunden sei, würde auch China immer mehr begreifen, fährt Wardega fort: „Die Wurzeln des europäischen Wissens und der europäischen Moral kommen aus dem Christentum. China begreift, dass es das Christentum in dem Sinne braucht. Nicht nur als Glaubensverkündigung oder Gotteskult in den Kirchen, sondern als Kultur, Literatur, Sprache, Extrakt des philosophischen und humanistischen Geistes Europas – und zwar, um eigene Werte wieder neu zu entdecken und sie in den Kontext des eigenen konfuzianischen Erbe zu setzen.“
Interessanter Punkt – Christentum als Europa-Elixier, das die eigenen, chinesischen Wurzeln wieder fruchtbar macht? Dieser Frage lohnt es weiter nachzugehen. Aber zuerst einmal will ich den Spuren der Jesuiten bis in die chinesische Hauptstadt folgen. Ricci soll ja ganze 18 Jahre gebraucht haben, um in Peking anzukommen. Ich selbst brauche nur ein Paar Stunden mit dem Flugzeug, das ich in Macau besteige. Erster Termin: Besuch beim Grab des Jesuiten in Peking. Mit dabei ist Pater Gernot Wisser SJ, Provinzial der Jesuiten in Österreich, ebenfalls in China unterwegs. Vielleicht lassen sich auch dort Hinweise finden, wie die kommunistische Partei den Matteo Ricci so sieht?
In der Gunst des Kaisers
Riccis Grab befindet sich auf einem kleinen Friedhof für ausländische Missionare auf dem Gelände der kommunistischen Parteischule für Verwaltung. Die Gedenkstätte liegt zwischen eleganten Schulgebäuden und weitläufigen Parkanlagen. Auf der Webseite der Parteischule ist sie als „Kulturrelikt Pekings“ ausgewiesen, vor dem europäische Politiker gern die Hände ihrer chinesischen Gastgeber schütteln. Von der Straße ist das Grab aber überhaupt nicht zu sehen.
Vor dem Grab treffen wir ein paar Frauen. Es sind zwei katholische Schwestern aus Handan und eine Lehrerin aus Südkorea. „Das ist wirklich schwer zu finden. Ich hab dann einfach den Taxifahrer gefragt“, sagt eine von ihnen, „der Wachmann am Eingang hat uns dann reingelassen.“ Zwischen hohen Hecken nähern wir uns der Grabanlage. Eine weiße Gedenktafel mit lateinischer und chinesischer Inschrift, auf dem angrenzenden Gelände eine Reihe hoher weißer Steinstelen mit schönen Verzierungen. Hier sind 63 Pioniere der Chinamission begraben, neben dem Italiener Matteo Ricci zum Beispiel auch der deutsche Jesuit Johann Adam Schall von Bell, der Belgier Ferdinand Verbiest und 14 chinesische Jesuiten.
„Li Madou kam von Italien. Er war Christ und Jesuit. In der Ming-Dynastie kam er im Boot nach China und verkündete die Religion. Er brauchte 18 Jahre, um nach Peking zu kommen. Er starb in Peking. Er wurde 58 Jahre alt“, übersetzt das junge Mädchen, das die Gäste über das Gelände führt, die Inschrift auf der Gedenktafel, hinter der das Grab liegt. Yunice, gebürtige Chinesin, studiert sonst in Frankreich Theologie, die Friedhofsführungen sind nur ein Ferienjob. Sie sei Christin, erzählt sie, wegen ihres Freundes – das habe in seiner Familie Tradition. Auf dem Grabstein ist unter anderem das chinesische Zeichen für Drachen zu sehen – das Kaisersymbol wurde manchmal auch hohen Persönlichkeiten zuerkannt. Matteo Ricci ist eine davon – erstaunlich! Sein Drache, erklärt Yunice, habe aber nur vier, nicht wie sonst üblich, fünf kaiserliche Finger.
Wie hat sich Matteo Ricci, der 1582 nach China kam, die Gunst des chinesischen Kaisers erworben? Wie er mit den Chinesen Freundschaft schließen konnte, hat er erst lernen müssen, erzählt mir Pater Wisser. Schließlich habe man auch in der florierenden Ming-Dynastie alles Fremde zunächst mal „mit gewissem Vorbehalt betrachtet“: „Und deshalb musste sich auch Matteo Ricci die Gunst der Intellektuellen des chinesischen Reiches und des Kaisers durch seine wissenschaftlichen Qualifikationen, durch seinen Charme und besondere Fähigkeit, sich Dinge zu merken, erringen, um damit dann anderen Jesuiten das Tor zu China zu eröffnen.“
Den Respekt der chinesischen Mächtigen erwarben sich die Jesuiten in kleinen Schritten. Ricci und seine Mitbrüder konnten den Kultur-interessierten Kaiser vor allem mit europäischen Kuriositäten ansprechen. Wer hätte auch schon den ausgefeilten Uhren, Teleskopen und Karten und anderen Errungenschaften der westlichen Wissenschaft widerstehen können? Ein Jahr nach seiner Ankunft am Kaiserhof im Jahr 1602 schuf Ricci im Auftrag des Kaisers die erste Weltkarte für China. Darauf war neben dem Reich der Mitte – das Ricci tatsächlich in die Mitte setzte – alle fünf Kontinente verzeichnet: eine Sensation.
Ricci erschloss sich China vor allem durch geduldiges Lernen und viel Anpassungsgeschick. Er kam, um China zu missionieren, doch zugleich veränderte China ihn. Ricci machte daraus Methode, sagt mir Pater Wisser vor dem Ricci-Grab mit einem Satz des jesuitischen Ordensgründers Ignatius von Loyola: „Da heißt es, man soll bei der Tür des anderen hineingehen und bei der eigenen Tür herauskommen. Und bei der Tür des anderen hineingehen meint eben zunächst einmal, den anderen verstehen lernen zu wollen, ihn in seiner Eigenart auch zu akzeptieren, ihn wertzuschätzen und dann zu sehen, wo sind die Dinge, wo wir gemeinsam etwas haben oder wo ich vielleicht auch Hilfe anbieten kann. Das wäre dann die eigene Tür.“
Kameras in der Kirche
Nach dieser Lektion in Sachen Missionsgeschichte bin ich langsam aber nun neugierig auf das echte Leben der chinesischen Christen. So besuchen wir nach dem Friedhof dann auch eine der katholischen Gemeinden in Peking, die auf Ricci selbst zurückgehen. Die „Kathedrale der Unbefleckten Empfängnis“, auch „Südkathedrale“ oder „Nantang“ genannt, ist staatlich anerkannt und Beijings älteste katholische Kirche; sie liegt nur ein Paar Straßen vom Ricci-Grab entfernt. Ricci errichtete hier zunächst eine kleine Kapelle, sein Nachfolger Johann Adam Schall von Bell erweiterte die Stätte zur Zeit der Quing-Dynastie. Davon erzählt eine Statue des deutschen Jesuiten im Innenhof der Anlage. Die Kathedrale ist seit 1996 staatlich geschütztes Denkmal der Volksrepublik China. Mehrmals wöchentlich werden hier Messen in Chinesisch, Englisch und Französisch angeboten, über zehn verschiedene chinesische Priester arbeiten hier, die Gemeinde wächst beständig.
„Seid Christen aus vollem Herzen, setzt eure Energie, euer Wissen, euren Reichtum für andere ein“, sagt der chinesische Priester den Gläubigen mit dem Gleichnis vom ungerechten Verwalter. Hinter ihm am Altar ein Bild der Mutter Gottes, eingerahmt von chinesischen Schriftzeichen auf rotem Grund. Dann spricht er von Mutter Teresa: „Sie hat ihren Orden aus dem Nichts geschaffen, ist Beispiel dafür, dass man auch mit kleinen Dingen helfen kann.“ Das Publikum ist überweigend jung – anders als bei uns in der Messe. Alle hören aufmerksam zu, auffällig viele junge Frauen sind versammelt. Es gibt ein Paar technische Pannen in der Messe, aber was soll’s, der Chor schmettert weiter seine Lieder. Nach Kommunion, Friedensgruß und Schlusssegen – „wir beten für unseren Papst Benedikt XVI.“ – werden noch ein Paar Neuigkeiten verlesen: „Nächste Woche beginnt die neue Konfirmandengruppe, die nächste Messe ist Samstag und übrigens: Herr Wen aus dem Chor hat heute Geburtstag – herzlichen Glückwunsch!“
Eigentlich fast wie bei uns, denke ich mir. Wären da nur nicht die Kameras an der Kirchendecke, die die Gemeinde die ganze Zeit beäugen… Ohne staatliche Rundum-Kontrolle darf Religion in China nicht wirken. Mehr zur chinesischen Religionspolitik in einer der nächsten Folgen der Reihe.