Der König verneigt sich: Herta Müllers Trumpf

„Warum kommt in Ihren Texten so oft der König und so selten der Diktator vor?“, wird sie häufig gefragt. „Das Wort König klingt weich.“ Herta Müller blickt ins Publikum. Ihre dunkel umrandeten Augen stechen aus dem weißen Gesicht hervor, das von einem markanten Pagenschnitt umrahmt wird. Müller steht auf der Bühne, inmitten der Ruinen des Forum Romanum, über ihr der Sternenhimmel. Ihre Stimme ist fragil und stark zugleich: „Und oft werde ich gefragt, warum in meinen Texten so oft der Frisör vorkommt. Der Frisör misst die Haare, und die Haare messen das Leben. Der Frisör, das Haar und der König fanden zusammen, lange bevor ich den Diktator kannte und bevor ich zu schreiben anfing.“

„Leben und Macht: die unbequemen Wahrheiten“ ist der Titel, unter dem das Internationale Literaturfestival Rom Herta Müller an diesem Abend präsentiert. Mit Machtkonstellationen kennt sich die Schriftstellerin aus. Insbesondere mit einer Repression, die so gründlich ist, dass sie selbst das Denken und die Sprache formt. Wohl keine Autorin hat den Totalitarismus in Rumänien unter Nicolae Ceauşescu eindrücklicher beschrieben als Herta Müller. Und sie hat ihn überlebt, wanderte 1987 nach Berlin aus, wo sie bis heute wohnt. „Als ich aus Rumänien kam, habe ich das Lachen und das Weinen nicht mehr unterscheiden können“, sagte sie einmal in einem Interview.

Müller hat es aufgenommen mit der Diktatur. Sie hat die Unterdrückung im Kommunismus aus der Innensicht dokumentiert, sich frei geschrieben von diesem System, das zum Gefängnis und für viele zum Grab wurde, um ein Haar auch für sie selbst. Müller hat keine Flugblätter verteilt. Auch gehörte sie keiner politischen Gruppe an. Und doch steht ihr Schreiben im Zeichen des Widerstandes. „Sie hat das Welterschütternde der Totalitarismuserfahrung erst erfahrbar und lesbar gemacht“, lobt die Literaturkritik sie, und bescheinigt ihr eine kraftvolle Metaphorik: „Mittels der Verdichtung der Poesie und der Sachlichkeit der Prosa“ zeichne die Schriftstellerin „Landschaften der Heimatlosigkeit“, hieß es in der knappen Begründung des Komitees, das Müller 2009 den Literaturnobelpreis zusprach.

 „Ein in die Länge gezogenes Übergewicht der Dinge“

„Heimat“ – das hat für Herta Müller schon früh einen bedrückenden Unterton. Sie wird 1953 in Nitzkydorf im Banat geboren, einer der beiden deutschen Enklaven in Rumänien, die Region gehörte früher zur k.u.k. -Monarchie. Ihre Familie, seit Generationen in Rumänien, ist da nur noch Gast auf ehemals eigenem Land: Wo Hertas Mutter früher Kartoffeln auf dem eigenen Feld erntete, pflanzt sie nun Gemüse für den Staat. Traktoren fahren das Staatsgetreide aus der Scheune ein- und aus. „Mein Großvater sah so seiner eigenen Enteignung immer wieder zu“, erzählt Müller. Das seien Bauern ohne Scholle gewesen, die „aus ihrer Biografie herauskatapultiert“ wurden. „Meine Großeltern haben diesen Staat eigentlich nie akzeptiert. Die hatten sogar noch Bilder an der Wand von Franz-Josef.“

Gesprochen wird über die Demütigung der Enteignung in Müllers Familie nicht. Auch nicht über die Zwangsarbeit der Mutter in einem ukrainischen Arbeitslager und die Vergangenheit des Vaters als Soldat in der Waffen-SS. Das Dorfleben ist wortkarg und arbeitsreich. Es folgt der Schwerfälligkeit der bäuerlichen Gebräuche. Herta fühlt sich in dieser Wirklichkeit nicht zu Hause. In ihren autobiografischenen Büchern  „Niederungen“ (1982) und „Der König verneigt sich und tötet“ (2003) beschreibt sie dieses „in die Länge gezogenes Übergewicht der Dinge“, das sie als Drohkulisse erlebt. Dieser Wirklichkeit setzt sie schon früh Sprachbilder entgegen: „Der König war von Kind an in meinem Kopf. Er steckte in den Dingen. Auch wenn ich nie ein Wort geschrieben hätte, wäre er da gewesen, um die neu hinzugekommenen Komplikationen der Tage in den Griff zu bekommen durch eine, wenn auch böswillige, doch gut bekannte leitmotivische Gestalt. Es war, wo sich der König präsentierte, keine Schonung zu erwarten, aber dennoch sortierte er das Leben, kam dem Durcheinander, wenn es dem Sagbaren davonlief, ohne Worte bei.“

Die kleine Herta gibt den Dingen Namen und neue Gesichter, kondensiert Erfahrungen der Angst, Fremdheit und Verlorenheit in einem inneren Universum aus Bildern und Worten. Aus diesem Überlebensmechanismus wird sie später jene präzise Sprache entwickeln, die das Grauen der Diktatur meisterhaft seziert und es wortschöpferisch umzugestalten versteht. Mit dem Schicksal der deutschen Bevölkerung in Siebenbürgen nach dem Zweiten Weltkrieg setzt sich Müller in ihrem Roman „Atemschaukel“ (2009) auseinander, der von der Deportation eines jungen Mannes in ein sowjetisch-ukrainisches Arbeitslager erzählt und auf den Erlebnissen des Lyrikers Oskar Pastior beruht.

Das internationale Publikum auf dem Forum Romanum folgt gebannt Müllers Lesung. Müller liest in ihrer Muttersprache, auf Deutsch. Für viele nicht gerade der Inbegriff von Melodie. Bei Müller aber verzichten einige Zuhörer auf Simultanübersetzung – sie stört nur bei so einem Vortrag. Das muss wohl mit Müllers Stimme zu tun haben. Das tiefe und zitternde Timbre, das rollende „r“ der „Tintentrauben“ und zischelnde „sch“ der „Fröschgöschel“ – Überbleibsel des Banater Dorfdialekts. Jeder von Müllers Sätzen hat so etwas Schwebendes und scheint doch ganz endgültig. Wie antike Säulen, die Zeugnis geben von der Vergangenheit. „Die Dinge hatten einzeln ihren König, aber die einzelnen Könige blickten, wo sie auftraten, zu den anderen Königen. Die Könige verließen ihre Gegenstände nicht, doch sie kannten einander, trafen sich in meinem Kopf und gehörten dort zusammen. Sie waren ein verteilter König, der sich immer neues Material aussuchte, in dem es sich leben ließ“, fährt Müller fort. Ihr Blick geht in die Schatten der Steine auf dem Forum Romanum.

Eine doppelbödige Lilie ist immer unruhig im Kopf

Rumänisch lernt Müller in der Schule, erst mit 15 Jahren. Die neue Sprache kommt der Jugendlichen vor „wie ein Taschengeld, das nie reicht.“ Später entdeckt sie die Schönheit dieser Sprache, ungeachtet deren Missbrauch im kommunistischen System. Das Rumänische „wächst ihr in den Kopf“, wie Müller es beschreibt, legt sich wie eine Folie über das Deutsch des Banater Dorfdialekts. „Zwischen den Sprachen tun sich Bilder auf“, und „in jeder Sprache sitzen andere Augen“. Eine komplexe, bisweilen verwirrende Situation für ein junges Mädchen, die Müller aber ein tieferes Weltverständnis verschafft. „Eine doppelbödige Lilie ist immer unruhig im Kopf und sagt deshalb mehr von der Welt als eine einsprachige Lilie.“  Im Spalt zwischen den Sprachen entwickelt Müller eine fast neurotische Sensibilität für das Material ihres Metiers. Bis heute sammelt sie wie besessen Wörter: Ihre Berliner Wohnung ist voll von ihnen. Müller schneidet sie aus Zeitschriften und Zeitungen aus und gibt ihnen in dadaistischen Wortcollagen ein neues Zu Hause.

Irgendwo zwischen dem „großen Schweigen“ des Dorfes und den verordneten Lobgesängen für Partei und Vaterland beginnt Müller zu schreiben. Ihre Muttersprache ist für sie nicht mehr und nicht weniger als ein Instrument. „Ich habe meine Muttersprache nie geliebt, weil sie besser ist, sondern die Vertrauteste.“ Bis heute vertritt Müller, was Sprache betrifft, eine heilsame Distanz. Hier liegt auch ihre Universalität. „Es tut keiner Muttersprache weh, wenn ihre Zufälligkeiten im Geschau anderer Muttersprachen sichtbar werden.“ Überhaupt sei „nicht Sprache Heimat, sondern das, was gesprochen wird“, findet Müller und hält sich dabei an den spanischen Schriftsteller und Widerstandskämpfer Jorge Semprún.

Im Rumänien der 70er Jahre eine eigene Sprache zu suchen und diese zu äußern ist riskant. Es stört das System, das auch die Wörter in Form bürstet und an die Kandarre nimmt. Es ist der Beginn der Schikanen, mit denen das Regime junge Schriftsteller wie Müller kleinhalten will.

Von 1973 bis 1976 studiert Müller an der Universität des Westens Timisoara Germanistik und Rumänistik. Sie kommt in Kontakt mit dem Literaturkreis „Aktionsgruppe Banat“ und gerät ins Visier des rumänischen Geheimdienstes. Als sie sich weigert, mit der „Securitate“ zusammenzuarbeiten, verliert sie ihren Job als Übersetzerin in einer Maschinenfabrik. Müllers erstes Buch wird jahrelang unter Verschluss gehalten und erscheint nur in einer zensierten Fassung, sogar das Wort „Koffer“ wird darin gestrichen. Das könnte die Deutschrumänen ja zur Auswanderung treiben, ist wohl die Befürchtung. „Sie versuchten, den wortimmanenten Verstand der Sprache zu löschen“, hält Müller dazu fest: „Die verordnete Sprache des Staates ist dabei so feindselig wie die Entwürdigung selbst“.

Der Staatskönig

Die diffuse Dorfangst wird in der Stadt zur Tortur, der Dorfkönig zum Tyrann. Die „Figuren“ im Umkreis der jungen Frau fallen reihenweise, das  „Spiel“ ist undurchsichtig, die Repression kann jeden treffen. Müller und ihre Freunde werden beschattet und verhört. „Es gibt Unfälle“, sagt Müllers Peiniger im Verhör, wie beiläufig, auch er ein kleiner König. Schachmatt unter Ceauşescu ist gründlich und grundlos. Und Müller lernt: Dieser König verneigt sich, doch er verneigt sich und tötet: „Er ist ein Staatskönig, er schachert an der Schnittstelle von Leben und Sterben, wirft die im lästig gewordenen heimlich aus dem Fenster, unter Züge oder Autos, von Flussbrücken, hängt sie an den Strick, vergiftet sie, inszeniert sein Töten als Selbstmord. Das Werkzeug des Stadtkönigs ist die Angst, nicht im Kopf gebaute Dorfangst, sondern geplante, kalt verabreichte Angst, die die Nerven durchbeißt.“

„Der Verhörer hob die Hand, dann aber nahm er mir ein Haar von der Schulter, wollte es mit zwei spitzen Fingern auf den Boden fallen lassen. Ich weiß nicht, warum ich plötzlich sagte: Bitte, legen Sie das Haar zurück, es gehört mir. Er griff mir extra langsam, sein Arm war wie durch eine Zeitlupe gelähmt, wieder auf die Schulter. Erst als er lachte, sah ich aus dem Augenwinkel auf meine Schulter. Er hatte das Haar wirklich genau so, wie es vorher dalag, zurückgelegt.“

„Der König war immer schon ein gelebtes Wort“

Lachen und Weinen kann Herta Müller heute wieder voneinander unterscheiden. Und wenn sie das einmal nicht kann, ist das ein besonderer, schöner Moment. Zum Beispiel in Stockholm Ende 2009, als sie den Nobelpreis für Literatur entgegennimmt. Gerührt ist sie da, das sieht man an ihren glitzernden Augen, und zugleich wunderbar lakonisch: „Eure Majestäten, liebe Freunde. Der Bogen von einem Kind, das Kühe hütet im Tal bis hierher, ins Stadthaus von Stockholm, ist bizarr. Ich stehe, wie so oft, auch hier neben mir selbst.“

In Rom ist die Nacht schwärzer geworden, doch die Bühne auf dem Forum Romanum ist noch hell erleuchtet. Müller kommt noch einmal auf den König zu sprechen. „Auch die gegen alle äußeren Umstände innen wachsende Lebensgier ist ein König, ein widerspenstiger König. Ich kenne ihn gut. Der König war immer schon ein gelebtes Wort.“

Fremdheit und Diktatur sind Grundthemen in Müllers Werk. Doch auch der unzerstörbare Lebenswille von Menschen und ihr Kampf um Würde angesichts einer totalen Repression, die selbst die letzte Hoffnung nehmen will. In ihrer Zeit in Rumänien habe sie oft an  Selbstmord gedacht, erzählt Müller. „Solche politischen Dinge in einem bewachten Land münden, wenn man dann zur Zielscheibe geworden ist, plötzlich alle ins Intimste hinein. Ich wollte ja gar nicht tot sein, aber ich konnte das Leben nicht mehr ertragen.“ Auch eine Zeit lang nach ihrer Flucht nach Deutschland sei sie von der Securitate noch mit dem Tode bedroht worden. Eine Selbsttötung war für Müller aber nie wirklich eine Option: „Ich hätte ja eigentlich die Drecksarbeit für die getan, indem ich mich selbst aus dem Weg räume.“

Da ist er wieder, der König, diesmal im widerspenstigen Gewand. Aus Angst wird Lebensgier, aus Lebensgier werden Worte, aus Worten eine Literatur des schlagenden Herzens. Herta Müller wird Diktatur wohl nie nur einfach „beschreiben“ können, sie hat es  bis in die Sprache hinein mit ihr aufgenommen. Die Freiheit des Unterdrückten werde umso größer, „je mehr Wörter wir uns nehmen können“, sagt sie. „Nichts stimmt, aber alles ist wahr.“ Und implizit sei die „Diktatur immer da“.

Herta Müller schlägt die letzte Seite ihres Textes „Der Frisör, das Haar und der König“ auf. Ihre Tinte ist aus Blut, ihr Papier aus Haar, der Frisör vielleicht sie selbst. Und der Verlorenheit, dem Grauen, der Schönheit und der Lebenslust setzt Müller eine Krone auf. Das ist ihr Trumpf: „Ich hebe die Schachfiguren aus dem Bauch und stelle sie der Farbe nach in zwei Reihen. Es gibt nur einen König, er torkelt, verneigt sich, er ist grün und wird, während er sich verneigt, rot. Ich halte ihn in der Hand und spüre, wie sein Herz klopft. Er hat Angst und darum beiße ich hinein. Er ist innen gelb und weich, hat süßes Fleisch, wie eine Aprikose. Ich esse ihn.“

Herta Müller las am 16. Juni 2010 im Rahmen des Internationalen Literaturfestivals Rom auf dem Forum Romanum Passagen aus ihrem autobiographischen Buch „Der König verneigt sich und tötet“. Das Poträt der Autorin wurde in einer Kurzfassung auf Radio Vatikan gesendet, Ausschnitte der Lesung hier .

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