Multikulti am Hauptbahnhof: Reise ins „Chinatown von Rom“

Früher Morgen an der Piazza Vittorio in Rom: Im „Multikulti-Viertel“ nahe dem römischen Hauptbahnhof herrscht schon Hochbetrieb. Während ein paar Asiaten im herbstlichen Park grazil Tai-Chi-Übungen vollführen, schmeißt das China-Restaurant an der Ecke schon den Ofen an. Neben Pekingente und Glasnudeln stehen dort auch Pizza und Pasta auf dem Menü. In einer Seitenstraße beten kahle Mönche vor einem goldenen Buddha. Ihr leises Gemurmel wird vom Geschrei der Schulkinder übertönt, die auf dem Bürgersteig in Chinesisch, Italienisch und Bengalisch durcheinander plappern.

Der Alltag in Roms internationalem Bezirk Esquilino hat in den letzten Jahren zunehmend ein asiatisches Gesicht bekommen. Seit Anfang der 1990er Jahre haben sich im römischen Ethnobezirk neben Menschen von den Philippinen, aus Bangladesch oder Rumänen auch immer mehr chinesische Einwanderer niedergelassen. Die meisten kommen aus den Bergdörfern in der Provinz Zhejiang südlich von Shanghai.

Inzwischen stellt sich die Gegend rund um die Piazza Vittorio – von Einheimischen auch „Chinatown von Rom“ genannt – wie ein exotischer Mikrokosmos in Roms altehrwürdigen Mauern dar. Wo früher italienische „Alimentari“ – also Feinkostläden -, Werkstätten und Schmuckgeschäfte unter den Arkaden der Palazzi residierten, reihen sich nun Asia-Läden mit den immer gleichen Produkten aneinander: Billigschuhe und Plastikkleidung, Modeschmuck und Spielzeug.

„Alles chinesische Mafia“
„Diese Geschäfte sind doch alle in der Hand der chinesischen Mafia“, behauptet der Besitzer eines kleinen Tabakladens, der in einer vom Platz abgehenden Seitenstraße liegt. Der 69-Jährige, seit über 20 Jahren Besitzer des historischen „Sale e Tabacchi“, beobachtet die Geschäfte der Gegend misstrauisch. Es sei auffällig, dass in den Läden mit den immer gleichen Billigprodukten nur selten Kunden ein- und ausgingen und die Geschäfte sich trotzdem hielten.

Die Direktorin des großen italienischen Geschäftes „MAS“ am Kopfende der Piazza geht noch weiter. „Die neuen China-Läden haben den gesamten Markt zerstört, sie verkaufen alles billiger“, meint die blonde Mittvierzigerin. Ihrem Laden hat die asiatische Konkurrenz bisher freilich nichts anhaben können. Jeder vierte „MAS“-Kunde sei Chinese, räumt die Direktorin ein.

Kurzsichtige Politiker
Andere kritische Ladenbesitzer des Esquilin-Hügels stört vor allem die chinesische „Mono-Kultur“. Schuld an der „Zersetzung der kommerziellen Vielfalt“ seien dabei nicht etwa die Chinesen, sondern die Entscheider aus der Stadtverwaltung, meint der Besitzer des italienischen Einrichtungshauses „Grilli“, Gianpaolo Grilli. Sein Familienbetrieb unter den Arkaden der Piazza hat sich tapfer gegen die chinesische Konkurrenz gehalten und präsentiert bis heute Möbel „Made in Italy“ auf fünf Etagen.

„Statt uns traditionelle Unternehmer und die historischen Geschäfte zu schützen, hat man sich um die Vergabe der Ladenflächen kein bisschen gekümmert“, echauffiert sich Grilli. Dreimal hätten Chinesen seiner Familie schon hohe Geldsummen für das Geschäft geboten – in bar, wie es bei den Chinesen üblich sei, die Geldscheine hätten schon auf dem Tisch gelegen. Der Möbelfachmann hat sich auf diese Angebote nie eingelassen. Stolz zeigt er auf ein Foto über der Verkaufstheke: seine Großeltern, auf die der 106-jährige Familienbetrieb zurückgeht. „Vielleicht ist das ja die falsche Geschäftsstrategie, aber wir glauben noch an Qualität und Tradition.“

Touristen mag die Piazza mit dem bunten Markt und den exotischen Geschäften nach den pompösen Monumenten der Ewigen Stadt eine willkommene Abwechslung sein. Den Römern bereitet die Veränderung des Viertels aber Kopfzerbrechen. Auch wenn der Esquilino wie auch Rom historisch gesehen in punkto Einwanderung erprobtes Terrain ist, gestaltet sich das Miteinander der Kulturen oft schwierig.

„Unsichtbar und unheimlich“
So richtig begründen können die meisten Anwohner dabei ihr Unbehagen nicht. Eigentlich gebe es ja nichts an den Chinesen auszusetzen: Sie seien „höfliche Leute“ und „großartige Arbeiter“. Gewalt oder Ruhestörung? Habe man „bei Chinesen nie erlebt“. Selbst die neofaschistische Gruppe im besetzten Eckhaus „Casa Pound“ scheint die Asiaten zu dulden. Im Erdgeschoss des mit ausländerfeindlichen Plakaten beklebten Gebäudes sind auch chinesische Geschäfte untergebracht. Was ist es also, was das Zusammenleben mit den Chinesen anders macht als das mit anderen ethnischen Gruppen?

„Die Chinesen sozialisieren sich nicht, sie freunden sich nicht mit den anderen Einwanderern an.“ Simonetta Dondoli vom Integrationsbüro der italienischen Gewerkschaft CGIL in der Via Buonarroti ist ratlos. Oft hat sie Chinesen Beratungen angeboten und versucht, sie für die politische Arbeit zu gewinnen. Vor ihr sitzt ein Mann aus Tunesien, der für seinen Sohn gerade die italienische Staatsbürgerschaft beantragt hat. Er sei mit einer Philippinerin verheiratet, erzählt er, und Freundschaft habe er auch mit Indern und Italienern geschlossen. Zu den Chinesen aber könne er nichts sagen.

Nach negativen Schlagzeilen über chinesische Schwarzarbeit, Menschenschmuggler und Mafia vermuten viele hinter den menschenleeren Asia-Shops an der Piazza Vittorio illegale Geschäfte. Auch die Unauffälligkeit der zahlenmäßig viertgrößten ethnischen Gruppe ist vielen Italienern unangenehm. Sie empfinden sie als „unsichtbar und unheimlich“. Und doch gibt es auch Beispiele gelungener Integration.

Chinesische Qualität und Tradition
Apotheker He Jun kam vor zehn Jahren aus Peking nach Rom. Da er damals keine Lust hatte, sich wie die meisten seiner Landsleute in der Ewigen Stadt im Kleidungssektor oder Restaurantgewerbe zu betätigen, eröffnete er eine kleine Drogerie. He Jun stammt aus einer Arztfamilie und wollte die Familientradition fortführen.

In den Vitrinen seines Ladens türmen sich Schachteln mit chinesischem Tee und Medikamenten kontrollierter Güte. Neben der Verkaufstheke hängt eine Meridian-Karte des menschlichen Körpers, daneben steht ein Plastikskelett. He Jun glaubt an Qualität und Tradition. Um in Italien als Akupunktur-Arzt arbeiten zu können, hätte er einen italienischen Abschluss gebraucht. Keine Chance, denn die Sprache fällt ihm schwer. Das Geschäft könnte besser laufen, aber inzwischen kämen auch italienische Kunden, erzählt er. He Jun ist zuversichtlich: „Piano, piano – das war mein erstes italienisches Wort.“

Zeitschrift als Sprachrohr
Ein paar Straßen weiter, unweit der Eisdiele „Fassi“, tippt Hu Lanbo chinesische Schriftzeichen in den Computer ein. Wenn jemand um die meisten Probleme der chinesischen Einwanderer in Rom weiß, ist sie es. Ob Sprachkurse, Neuigkeiten aus der alten Heimat oder erschütternde Bekenntnisse illegaler Einwanderer – mit jeder Ausgabe ihrer seit 2001 erscheinenden Zeitschrift „China in Italien“ packt die Journalistin ein anderes brennendes Thema an.

Mit Erfolg. Auflagen und Leserschaft stiegen, Hu Lanbo bekam auf einmal Briefe von Chinesen, die in ihr ein Sprachrohr gefunden zu haben glaubten. Ein Gefangener habe ihr einmal mitgeteilt, dass ihre Artikel ihm die Augen geöffnet hätten. Und auch die chinesische Gemeinschaft in Rom scheint in den vergangenen Jahren aufgewacht zu sein. Als es im Mailänder Chinatown im April 2007 zu handfesten Auseinandersetzungen chinesischer Einwanderer mit der Polizei kam, ergriffen Roms Chinesen die Initiative: Sie trafen sich mit der Stadtverwaltung und besiegelten ihren Integrationswillen mit einer schriftlichen Vereinbarung.

Über das Zusammenleben ihrer Landsleute mit den Italienern kann Hu Lanbo insgesamt Positives berichten. „Es tut sich was“, meint sie und denkt an die zweite Einwanderergeneration. Sie selbst ist mit einem Italiener verheiratet und hat zwei Kinder. „Die jungen Chinesen hier sprechen zum Teil römischen Dialekt, haben italienische Freunde und werden Anwälte, Steuerberater und Wissenschaftler.“ Auch aufseiten der Italiener bestehe immer mehr Interesse an China.

Die Zeitschrift „China in Italien“ erscheint seit 2007 auch zweisprachig, auf Italienisch und Chinesisch. Die Chinesen zweiter Generation erzählen sich Witze im römischen Dialekt und manchmal kommen Chinesen und Italiener auf der Piazza sogar ins Gespräch miteinander. Die ersten Brücken zwischen Orient und Okzident sind im „Chinatown von Rom“ jedenfalls schon geschlagen. „Piano piano, langsam langsam“, weiß der Apotheker He Jun und schlürft Cappuccino.

(für dpa, veröffentlicht bei n-tv.de am 25. Februar 2010)

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