Nichts muss, alles kann

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Katalogbeitrag zur Ausstellung „OBJECTrelations“ im Kunstbahnhof Dresden. Künstler: Florin Sebastian Winkler

 

Florin Winklers „Object Relations“ gehen von den vielfältigen Wahrnehmungsmöglichkeiten des Raumes aus. Man könnte sie als Modulationen von Raum bezeichnen. Nicht das Objekt steht im Mittelpunkt, sondern das „Zwischen“ den Objekten. Die Arbeiten treten untereinander und mit ihrer Umgebung in Beziehung. Sie sind nicht nur selbst räumlich, sondern schaffen neue räumliche Situationen und laden dazu ein, sich in diesen zu bewegen. Florins Objekte schließen nichts ab oder ein, sondern öffnen und vervielfachen.

In Moderne und Gegenwart haben sich die Vorstellungen und Wahrnehmungen von Raum vervielfältigt. Das Modell eines dreidimensionalen, homogenen Raums wurde von einem dynamischen und vielgestaltigen Raumbegriff abgelöst.

Dieser grundlegende Wandel bahnte sich seit Mitte des 19.Jh. an und steht mit neuen Erkenntnissen in der Naturwissenschaft in Zusammenhang. In der Mathematik wurde das bis dahin vorherrschende Modell des „Containerraums“, das auf der euklidischen Geometrie beruhte, relativiert. Statt eines dreidimensionalen, statischen Raums sprach man nun von „gekrümmten Räumen“ und von einer vier- oder mehrdimensionalen Welt, in der Raum und Zeit miteinander verschmelzen. In Albert Einsteins allgemeiner Relativitätstheorie aus dem Jahr 1916 wird der Raum als eine Raumpluralität verstanden, die von Messinstrumenten und Geschwindigkeiten abhängt. Die räumlichen Beziehungen – zwischen Licht und Raum, zwischen Zeit und Raum, zwischen den Objekten – rückten in den Mittelpunkt.

In der Sinnesphysiologie beschäftigte man sich ab Mitte des 19.Jh. verstärkt mit der Erforschung der menschlichen Sinne, insbesondere dem Vorgang des Sehens. Das Modell der Camera Obscura („der dunklen Kammer“), mit dem man bis dahin das Sehen erklärt hatte, wurde zunehmend in Frage gestellt. Tausende von Versuchstieren mussten sterben, damit Forscher wie Hermann von Helmholtz und Uexküll entdecken konnten, dass uns die Welt nicht als kleines Abziehbild ins Auge flattert, sondern dass das Sehen und damit auch unsere Vorstellung vom Raum von allen Sinnen und von der individuellen Wahrnehmungsgeschichte abhängt. Betont wurde der Zusammenhang zwischen Sehen, Tasten und der Raumwahrnehmung: Nur weil wir als Baby unzählige Male Bauklötze angefasst und in den Mund gesteckt haben, über den Boden gerobbt sind und auf wackeligen Beinen das Gleichgewicht hielten, haben wir einen Begriff von Räumlichkeit, von Ausdehnung und Schwerkraft.

Die Beziehungen, die die Wissenschaft ab Mitte des 19.Jh. zwischen den Sinnen und dem Raum den Sinnen experimentell entdeckt, sind für uns und unseren Körper selbstverständlich. Ein Raummodell, das einem sichtbaren, geometrischen Raum entspricht, ist angesichts der Vielfalt unserer Raumwahrnehmungen eigentlich künstlich. Denn mehr noch als von der visuellen Wahrnehmung hängt der Raum von unserer „Leiblichkeit“ ab. Der französische Phänomenologe Maurice Merleau-Ponty nähert sich dem Raum in seiner Schrift „Phénoménologie de la Perception“ (1945) vom Standpunkt des Leibes her und bestimmt den Raum als mediale und relationale Größe, als „universelle Kraft der Verbindung zwischen den Dingen.“ Bei Merleau-Ponty geht es um einen gelebten Raum, einen durch den Körper erfahrenen und erzeugten Raum.

Solche innerlichen und aus uns erzeugten Räume sind auch der ganze Bereich der Kunst, der Fantasie, der Träume. In der Geschichte „Alice in Wonderland“ von Lewis Carroll gibt es eine Szene, in der Alice die Flasche mit der mysteriösen Flüssigkeit findet, mit der sie ihre Körpergröße ändern kann (leider englische Version). However, this bottle was not marked ‚poison,‘ so Alice ventured to taste it, and finding it very nice, (it had, in fact, a sort of mixed flavour of cherry-tart, custard, pine-apple, roast turkey, toffee, and hot buttered toast,) she very soon finished it off. ‚What a curious feeling!‘ said Alice; ‚I must be shutting up like a telescope.‘ And so it was indeed: she was now only ten inches high, and her face brightened up at the thought that she was now the right size for going through the little door into that lovely garden. Die schmackhafte Flüssigkeit in der Flasche ist für Alice in dieser Szene der Schlüssel, das Eintrittsticket für eine neue Welt bzw. einen neuen Raum. Das interessante daran ist, dass sich Alice nicht nur Räume unterschiedlicher Größe und Gestalt bewegt, sondern auch selbst dauernd ihre Größe ändert. Alice Wunderland lässt sich deshalb als Metapher für den vielgestaltigen und dynamischen Raum verstehen, der heute in der Kunst, Wissenschaft und Philosophie thematisiert wird. (Wohlgemerkt entstand der Roman vor Einsteins Relativitätstheorie, die Fantasie war in diesem Fall einmal wieder schneller als die Wissenschaft.)

In der bildenden Kunst vervielfältigte sich der Raumbegriff in dem Moment, in dem man nicht mehr versuchte, die Welt der „objektiven“ Dinge abzubilden, sondern die Wahrnehmungsprozesse in das Werk zu integrieren. Der Kubismus war ein erster Schritt in diese Richtung und der Beginn eines neuen Raumideals. Picasso und Braque machten mögliche Raumerlebnisse und -gestaltungen zum Thema ihrer Kunst. Sie komponierten verschachtelte Bildräume aus Körpern, die sich in verschiedene Richtungen zu bewegen schienen, wobei jeder Körper von einem anderen Standpunkt aus gesehen wurde.

In Kurt Schwitters „Merzbau“ und El Lissitzkys „Prounenraum“ wird der Raum erstmalig zum Kunstgegenstand erhoben. Die ganze Architektur baut auf der Erkenntnis auf, dass der Raum unsere Wahrnehmung grundlegend beeinflusst. Der Philosoph Wolfgang Welsch spricht sogar von einer grundlegenden Prägung, er sagt, dass „Räume Menschen bilden“ und unsere Existenz „modulieren“. Beispiel für einen Raum, der seine Begeher in der Tat zu prägen scheint, ist das jüdische Museum in Berlin. Durch schräge und schiefe Ebenen und Linien wird beim Besucher ein Gefühl von Unwohlsein, Orientierungslosigkeit und Irritation ausgelöst.

Ab den 60er Jahren haben Künstler in „Raumobjekten“, „Rauminstallationen“ und „Environments“ den umliegenden Raum in ihre Arbeiten einbezogen. Auffällig ist, dass immer mehr zufällige und spielerische, aber auch wissenschaftliche Ansätze Eingang in die künstlerische Gestaltung finden. Die Tendenz ist es, Möglichkeitsräume zu schaffen, in denen der Besucher selbst aktiv werden kann. Ab den 80er Jahren werden im Bereich der Computerkunst virtuelle Räume geschaffen, die zwar nicht tatsächlich begehbar sind, aber künstliche Orte darstellen, in denen sich die User als virtuelle Körper „begegnen“ können.

Es lässt sich also festhalten: Der Raumbegriff hat sich im letzten Jahrhundert vervielfältigt. Von einem apriorisch verstandenen „Raumbehälter“ ist man zu einem Begriff von Raum gelangt, der als dynamisch, relativ und vielgestaltig verstanden wird und immer von uns als Wahrnehmendem abhängt.

 

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Florin Winklers „Object Relations“ gehen von den vielfältigen Wahrnehmungsmöglichkeiten des Raumes aus. Man könnte sie als Modulationen von Raum bezeichnen. Nicht das Objekt steht im Mittelpunkt, sondern das „Zwischen“ den Objekten. Die Arbeiten treten untereinander und mit ihrer Umgebung in Beziehung. Sie sind nicht nur selbst räumlich, sondern schaffen neue räumliche Situationen und laden dazu ein, sich in diesen zu bewegen. Florins Objekte schließen nichts ab oder ein, sondern öffnen und vervielfachen. Auch sie sind, wie die geheimnisvolle Flüssigkeit in der Flasche in „Alice in Wonderland“, ein Schlüssel zu einer neuen Raumwahrnehmung.

 

I

Die ausgestellten Arbeiten entsprechen drei Schaffensphasen in Florins Auseinandersetzung mit dem Thema Raum. Die Wandreliefs stammen aus der ersten Phase. Die sich aufwölbenden und gegeneinander wölbenden Flächen scheinen den sie umgebenden Raum herauszufordern. Die gemusterten Flächen scheinen flexibel und beweglich zu sein und bekommen eine fast stoffliche Qualität. Die Objekte erinnern an das Morphing, einem Vorgang, bei dem dreidimensionale Körper virtuell ineinander überführt werden. Die Gebilde scheinen wie Momentaufnahmen eines mehrdimensionalen Raumes. Ihre Vielfalt erschließt sich, wenn wir an ihnen vorbeilaufen, sie umwandern, auf das Angebot eingehen, das sie uns machen.

 

II

In dem Raumsystem 003, das eine Weiterentwicklung der Wandreliefs ist, gibt es kein zentrales Objekt mehr, sondern ein System aus einzelnen Modulen. Während die Wandreliefs noch von einer geschlossenen Oberfläche ausgehen, sind im Raumsystem 003 Oberflächen aufgebrochen und vervielfacht. Die Muster unterstützen nicht mehr die Geschlossenheit der Flächen, sondern scheinen sie aufzulösen. Der umliegende Raum bekommt Konkurrenz durch ein sich Raum nehmendes Gebilde an beweglichen Elementen.

Ich habe dann angefangen, über das einzelne Modul, das Einzelteil in diesem System nachzudenken. In den Kopf kamen mir so unterschiedliche Dinge wie Baustein, Puzzleteil, aber auch Synapse, Chromosom, Virus und Schriftzeichen. Doch was wird da eigentlich geschrieben? Der Code ist sichtbar, das Geheimnis bleibt aber verborgen.

 

Es wuchert über den Boden.

Anfang ist Ende ist Anfang ist Ende.

frisst den Raum in den Raum

wurzellos

angeschwemmt

kleinkariert und lupengroß

Richtungen Verdichtungen

Gebunden verbunden gesteckt gescheckt

Vervielfacht verkleinert verschachtelt verfeinert

Genetischer Code lebendiger Tod

Einer für alle, alle für einen.

Fragil und doch stabil.

Ein Spiel?

nichts muss – alles kann

Außen, innen, mittendrin.

2

 

III

Bei den Wandreliefs „Dunkelheit“ und „Der Untertan“ organisiert Florin die Einzelteile wieder in einer Oberfläche und kehrt zu einer geschlossenen Objektform zurück. Ausgehend von der Schildwachenszene und der Steigbügelszene aus dem Nibelungenlied, in denen die Hagen und Volker bzw. Siegfried und Gunther miteinander interagieren, werden sichtbare Raumwerte wie Licht, Schatten und Farbe in eine bewegliche Reliefstruktur übersetzt. Die im Raumsystem 003 erprobten Möglichkeiten werden so auf eine bildliche Szene angewendet: Die Oberfläche der Reliefs ist nicht wirklich geschlossen, sondern scheint wie eine flexible Rüstung, die sich mit den unter ihr liegenden Körpern und Szenen bewegt.

Die von Florin geschaffenen Räumlichkeiten sind flexible bewegliche Gebilde. In seinen Arbeiten wird der Raum als Behälter aufgelöst und zu einem Raum der Relationen zwischen Objekten gemacht. Denn Betrachter bleibt in diesen Raummodulationen kein Betrachter, sondern wird zum Mitspieler im Spiel zwischen Flächen und Teilen, Farben und Dimensionen.

*

Katalogbeitrag zur Ausstellung „OBJECTrelations“ von Florin Sebastian Winkler Sommer 2006 im Kunstbahnhof Dresden.

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